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Berlin: Naschen nach Maß

Fällt bei Kindern die Bauchspeicheldrüse aus, muss regelmäßig Insulin von außen zugeführt werden. Keine leichte Aufgabe, denn die kleinen Patienten müssen lernen, ihren Blutzucker zu kontrollieren und sich selbst Medikamente zu spritzen. So wie die zehnjährige Anna

Anna ist zehn Jahre alt und muss heute rechnen lernen. Addieren und Substrahieren kann sie eigentlich längst. Doch hier geht es um etwas anderes. Das schlanke Mädchen mit den großen, neugierigen braunen Augen muss im Sana-Klinikums Lichtenberg Rechenregeln für ihre Gesundheit üben: Broteinheiten, Spritzenzeiten, Arzneidosen. Fehler könnte ihr Körper hart bestrafen. Anna ist zuckerkrank, medizinisch: Diabetes mellitus Typ 1.

Eine Autoimmunkrankheit. Die Insulin produzierenden Zellen in der Bauchspeicheldrüse werden von den eigenen Abwehrzellen zerstört. Warum? Das weiß die Medizin nicht zu sagen.

Bricht bei Kindern die Krankheit aus, verschlechtert sich ihr Gesundheitszustand innerhalb weniger Tage bis Wochen. Sie erbrechen sich, verlieren rapide an Gewicht. Oft verspüren sie großen Durst und trinken mehrere Liter am Tag, auch nachts. Die Folge: Viele von ihnen machen wieder ins Bett. Dann merkten die meisten Eltern, dass was mit ihrem Kind nicht in Ordnung ist, sagt Holger Haberland, Oberarzt an der Kinderklinik des Sana-Klinikums Lichtenberg. Aber die wahre Ursache erkennen die meisten nicht. Sie denken vielleicht an seelische Probleme. Doch der starke Harndrang wird durch den überschüssigen Zucker verursacht, der wieder ausgeschieden wird. Daher auch der altgriechische Name: Diabetes mellitus heißt übersetzt „honigsüßer Ausfluss“.

Wie sollen die Eltern einen solchen Zusammenhang auch erkennen? Und so wird trotz der auffälligen Symptome jedes fünfte Kind erst im komatösen Zustand in eine Berliner Rettungsstelle eingeliefert, dann wenn der Organismus dem unabgebauten Zucker im Blut nicht mehr fertig wird. „Ohne Insulin ist ein Mensch nicht lebensfähig“, sagt der Diabetologe Haberland. Im Krankenhaus erhalten die Kinder als erstes das lebensrettende Insulin.

Bei Anna Kotzwich war das anders. Ihre Mutter Simone ist selbst seit ihrer Kindheit zuckerkrank – und sie kannte die ersten Symptome nur zu genau. Anna ging es mehrere Tage lang nicht gut, sie übergab sich oft. Simone Kotzwych ging mit ihrer Tochter zur Notaufnahme.

Das ist zwei Wochen her. So lange wird sie nun schon in der Kinderklinik des Sana Klinikums – Lindenhof genannt – stationär betreut und darin geschult, mit der Krankheit, die da so plötzlich über sie kam, zu leben. Anna bekommt Einzelunterricht, die Diabetes-Beraterin konzentriert sich heute ganz allein auf sie. Anna muss viel lernen. Wie sie künftig genau darauf achten muss, wann es ihr nicht gut geht und was sie selbst in einem derartigen Fall tun muss. Deshalb fallen in der Schulung auch Vokabeln wie „weiche Knie“, „Hunger“, „Kopfschmerzen“, „Zittrigkeit“ oder „Herzklopfen“.

Anna hat gelernt, dass Insulin den Stoffwechsel regelt. Das Hormon vermittelt die im Blut aufgenommenen Kohlenhydrate an die Zellen, die den Zucker in Energie umwandeln. Sie weiß auch, dass sie ab jetzt mit dem Insulinmangel in ihrem Körper leben muss, denn Diabetes können die Ärzte nicht heilen.

Das Risiko, als Kind an Diabetes Typ 1 zu erkranken, ist erheblich höher als im Erwachsenenalter. Vor allem Kinder zwischen zwei und vier Jahren sowie zwischen zwölf und 14 Jahren sind betroffen. Unklar ist in der Medizin jedoch, warum es zu dieser altersbedingten Häufung kommt.

Da die Bauchspeicheldrüse kein Insulin produziert, muss das Hormon den Kindern täglich gespritzt werden. Bundesweit hat sich bei Diabetologen die so genannte intensivierte Insulintherapie durchgesetzt. Das heißt, die betreffenden Kinder erhalten häufiger am Tag und in kleineren Mengen Insulindosen. Bei der herkömmlichen ZweiSpritzen-Therapie – eine morgens, eine abends – mussten Essverhalten und Lebensgewohnheiten der injizierten Hormonmenge untergeordnet werden. Doch bei einer intensivierten Therapie müssen Kinder auf Geburtstagsfeiern nun nicht mehr auf Schokoladenkuchen verzichten.

Neben der individuell korrekten Dosierung des Hormons sind Schulungen das A und O der Therapie. „Verbote beim Essen sind Kindern schwer zu vermitteln“, sagt Haberland. Deswegen müssten die Kinder besonders ihre Insulinmengen für zwischendurch verspeiste Sachen wie Eis oder Popcorn berechnen können. Befindet sich zu viel oder zu wenig Insulin im Körper, kann es zu extremen Veränderungen ihres Blutzuckers, also die Menge an Kohlenhydraten im Blut, kommen.

Wird zu viel Insulin in den Körper gepumpt oder viel Sport getrieben, ohne etwas zu essen, unterzuckern Kinder leicht. Ärzte nennen diesen Zustand Hypoglykämie. Die Zellen werden nicht ausreichend mit Kohlenhydraten versorgt, es drohen Bewusstlosigkeit und Krampfanfälle.

Fehlt allerdings das Hormon, obwohl gegessen und getrunken wurde, dann können die Kohlenhydrate nicht über die Zellen abgebaut werden. Es droht eine Überzuckerung – Hyperglykämie. Kinder drohen in diesem Zustand, bewusstlos zu werden und ins Koma zu fallen.

Im Schulungsraum liegen vor Anna auf einem runden Tisch lebenserhaltende Geräte. Hinter ihr an der Wand stapeln sich viele Spiele übereinander. Anna würde lieber mit ihrer Zimmernachbarin durch die Krankenausflure rennen, als still auf dem Stuhl zu sitzen. Dennoch hört sie der Diabetes-Beraterin aufmerksam zu.

Anna fragt, ob sie mal das Spritzengerät vor ihr ausprobieren darf. Es sieht aus wie ein dicker Filzstift. Hinten befindet sich ein Regulator, der die Dosierung des Insulins bestimmt. Vorne wird die Einwegkanüle der Spritze aufgesteckt. Die Nadel ist fünf Millimeter lang.

Das Pieksen kostet die meisten Kinder viel Überwindung. Anna hat aber keine Angst. Doch vor der Insulininjektion, muss zuvor der Blutzuckerwert bestimmt werden. Anna nimmt sich dafür selbst Blut in der Fingerspitze ab. Es zwickt ein wenig, sagt sie tapfer. Dann drückt sie einen Tropfen ihres Blutes auf einen Teststreifen und schiebt ihn in ein pinkfarbenes Messgerät, das wie ein MP3-Player aussieht. Kurz danach zeigt das Gerät 5,7 an – normaler Wert.

Es gibt auch einen anderen Weg, die Hormonversorgung sicherzustellen. Dafür verwenden die Kinderärzte Insulinpumpen. Diese Technologie wurde in den Neunzigern entwickelt und wird seit zehn Jahren bei unter 18-Jährigen verwendet. Es sind kleine elektronische Geräte, die über einen Plastikschlauch mit einer Kanüle verbunden sind. Dauerhaft steckt sie in der Haut des Kindes – entweder im Bauch, Bein oder Po. Die Automaten spenden die eingestellte Menge Insulin. „Mithilfe der Pumpe erhöht sich die Lebensqualität der Patienten enorm“, sagt Klemens Raile, Leiter des Diabeteszentrums für Kinder und Jugendliche des Virchow-Klinikums der Charité.

Gerade für sehr kleine Kinder bedeuten die Pumpen eine Erleichterung. Denn sie benötigen intensivere Betreuung, nehmen ihre Erkrankung noch nicht selbst wahr und können sich unter Umständen auch noch gar nicht selbst spritzen.

Anna will die Pumpe nicht – noch nicht. Sie wählt die Spritze, und sie wird nach ihrer Entlassung nun alle zwei Monate mit ihrer Mutter das Diabetes-Zentrum aufsuchen. Die Nachuntersuchungen sind wichtig, um Blutwerte zu messen und immer die richtige Insulinmenge zu bestimmen.

Anna ist nicht die einige junge Diabetes-Patiententin im Lindenhof. In der Diabetes-Ambulanz sitzt auch Friederike mit ihrer Mutter, Katharina Kaden, in der Sprechstunde. Die Fünfjährige spielt mit farbigen Bauklötzern, die Oberarzt Haberland auf der Pritsche neben seinem Schreibtisch verteilt hat. Friederike hat lange schwarzte Haare und trägt ein buntes Kleid. Darunter eine Insulinpumpe. Kinderarzt Haberland und Katharina Kaden gucken gemeinsam Friederikes Blutzuckertagebuch an, das in der Pumpe gespeichert ist. Darin ist erkennbar, wann das Mädchen Sport gemacht hat, wann es etwas gegessen hat oder wann es schlief.

Immer wieder müssen die Patienten mit der Insulinmenge neu eingestellt werden – und sie müssen sich streng an die Therapievorgaben halten. „Die Risiken im Alter, schwer zu erkranken, steigen ohne eine kontinuierliche Behandlung“, sagt Haberland. Dann drohen Spätfolgen wie Blindheit oder Nierenversagen.

Aber nicht nur Insulintherapie und ärztliche Untersuchungen entscheiden darüber, ob Kinder im Erwachsenenalter schwer krank werden. Viel Eigeninitiative werde von den Betroffenen gefordert, sagt Klemens Raile, Leiter des Diabeteszentrums für Kinder und Jugendliche des Virchow-Klinikums der Charité. Eine psychologische und soziale Betreuung der Betroffenen ist daher sehr wichtig.

Denn Kinder, die mit Diabetes aufwachsen, leiden im Alter oft unter gestörten Selbstwertgefühlen und Depressionen. Gerade in der Pubertät und nach dem Schulabschluss vernachlässigten viele ihre Insulintherapie. Deshalb kommt in dieser Lebensphase auch zu den meisten Komplikationen, Mediziner nennen das Stoffwechselentgleisungen.

Die Eltern wiederum plagen oft Zukunftsängste. Denn Arbeit und Betreuung der kranken Kinder lassen sich nicht immer gut miteinander vereinbaren.

Mutter Kaden aber zeigt viel Eigeninitiative. Sie ist alleinerziehend. Teilzeitbeschäftigt. Doch trotz des Diabetes ihrer Tochter will sie den Alltag so normal wie möglich gestalten. „Meine Tochter soll nicht vom normalen Leben ausgeschlossen sein“, sagt sie. Wenn ein Kindergeburtstag ansteht, feiert sie einfach mit – damit sie Friederike im Falle der Fälle betreuen kann. Aber: „Nicht der Diabetes soll unser Leben beherrschen, sondern wir ihn.“

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