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Berlin: Neonazis gaben auf

10 000 friedliche Gegendemonstranten verhindern in Prenzlauer Berg rechten Aufmarsch. Thierse von Polizisten weggetragen

Zu Tausenden sitzen, liegen und stehen die Menschen in der Wichertstraße, Ecke Greifenhagener Straße in Prenzlauer Berg. Eine Mutter tanzt ausgelassen mit ihrer Tochter zu „Girls just wanna have fun“, das blechern aus den Boxen eines Autos dröhnt. Wäre da nicht die martialisch wirkende Polizei, man könnte die Szenerie für ein Volksfest halten. Mit grünen Luftballons in der Hand haben sich die Demonstranten hier positioniert, um den Naziaufmarsch zu stoppen – friedlich.

„Wir habens fast geschafft, ihr wart super – bitte wartet noch ein wenig, bis die Katze im Sack ist“, twittert das Bündnis „1. Mai – Nazifrei“ um 17.28 Uhr. Kurz darauf stiegen die Neonazis, eskortiert von der Polizei, wieder in die S-Bahn: Rund 10 000 Menschen hatten es geschafft, den Aufmarsch der Neonazis verhindert. An mehreren Stellen im Stadtteil Prenzlauer Berg blockierten sie die Straßen, um den Marsch der Rechtsextremen aufzuhalten. Dabei kam es zu einzelnen Zusammenstößen mit der Polizei. Die Veranstalter kritisierten etwa den Einsatz von Pfefferspray gegen Demonstranten. Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD), der zusammen mit anderen Politikern an der Bornholmer Straße kurzzeitig die Route der Neonazis blockierte, wurde dann von Polizisten an Armen und Beinen hochgezogen und an den Straßenrand geführt.

„Eigentlich lebe ich seit 30 Jahren gerne in Berlin“, erzählt ein Rentner, der gerade an einer Polizeiabsperrung am Weitergehen gehindert wurde. Dass die Nazis nun durch Berlin marschieren wollen, findet er empörend. Dass die Polizei ihn nicht bis zur Bornholmer Straße lässt, wo die Rechten sich sammeln, sei noch viel empörender. „Wir wollen nur friedlich unsere Meinung sagen, das muss erlaubt sein.“ Von Gewalt hält er nichts. Auf seinem T-Shirt fordert er aber die Höchststrafe für Nazis: „90 Tage Busrundreise durch den Hartz.“

Ein paar Meter weiter spielen drei kleine Jungs „Mensch ärgere dich nicht“ – mit Gummibärchen. Für ihre Mutter ist es selbstverständlich, dass sie mit auf der Demo sind. „Ich habe hier keine Angst“, sagt sie. Alle seien doch friedlich. Die mit schwarzen Kapuzenpullis bekleideten Autonomen, die nebenan ihr Lager aufgeschlagen haben, stören sie nicht. „Wo mein Kind ist, da dürfen keine Nazis sein, deswegen bin ich hier.“ Mit dem ersten Mai und der Randale habe das überhaupt nichts zu tun. „Aber natürlich wird das von den Medien immer in einen Topf geworfen“, ärgert sie sich.

Die Stimmung könnte nicht besser sein. Die Kunde verbreitet sich, dass nur wenige hundert Nazis am Treffpunkt Bornholmer Straße angelangt seien. Auch einige Polizisten legen erleichtert ihre Helme und Handschuhe ab. „Wegen 70 Nazis bleibe ich nicht in voller Rüstung“, erklärt ein Beamter. „Wir können alle Feierabend machen“, ruft er den Demonstranten im Scherz zu. „Die Nazis sind zu Hause geblieben.“ Doch natürlich weicht niemand zur Seite. „Ich habe das Gefühl, dass wir genau hier richtig sind“, sagt eine ältere Dame. Sie ist immer noch ganz begeistert, dass sie bei der Blockade dabei ist. Das Miteinander, der zivile Widerstand, wie sie sagt, das sei schon ergreifend. Seit 9 Uhr morgens ist sie dabei. Der friedliche Protest ist für sie die einzige Option. „Wir wollen denen ja nicht auf die Mütze geben“, sagt sie. Sie hofft, dass das alle hier so sehen. Es ist ihre erste Demonstration.

Doch der Großteil der Leute, die hier versammelt sind, haben einige Demoerfahrung. Marcus beispielsweise ist Student. Einmal pro Stunde fragt er über Handy den Ticker der Veranstalter ab. „Die sind immer noch nicht los marschiert“, sagt er freudig. Sein Rucksack ist voll mit belegten Broten und Wasser. Er hat sich auf einen langen Nachmittag eingestellt. Genau wie eine Gruppe junger Antifaschisten, die auf einer Grünfläche ein Picknick eröffnet hat.

Tatsächlich scheint es, als seien Punks, Rentner und junge Familien, in ihrer friedlichen Absicht geeint. Doch irgendjemand tanzt immer aus der Reihe. Gegen 16 Uhr ist von den Nazis weit und breit noch immer nichts zu sehen. Dafür ziehen plötzlich tiefschwarze Wolken über der Berliner Straße auf. Fünf Müllcontainer wurden angezündet und brennen lichterloh. Sofort setzt sich ein Pulk Schaulustiger in Richtung Feuer in Bewegung. „Bleibt, wir brauchen euch hier!“, ruft über das Megafon noch einer der Organisatoren hinterher. Für einige, so scheint es, ist die Faszination der Zerstörung dann aber doch verlockender.

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