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Neuer Architekturwettbewerb: Einheitsdenkmal: Einer fällt aus dem Rahmen

Luft, Freiheit, Durchzug. Ein Fenster, weit geöffnet gen Westen. Das ist seine Idee für ein Einheitsdenkmal. Wolfgang Quint, Sonderschullehrer aus Lichtenrade, hofft, dass er am Wettbewerb teilnehmen darf. Ab heute wird darüber entschieden.

Es begann leise zu flimmern an den Rändern seines Bewusstseins, und plötzlich war sie da: die Idee. Seitdem hält sie ihn gefangen. Denn es ist ganz falsch zu sagen, wir hätten Ideen, meist haben – und Wolfgang Quint ist der beste Beweis – die Ideen uns. Er steht mit ihr auf, sie begleitet ihn durch seine Tage, er geht mit ihr schlafen. Er lebt mit ihr in der ruhigen Gewissheit des Außerordentlichen. Es ist die Idee zu einem Denkmal der deutschen Einheit.

Wolfgang Quint steht in der kleinen weißen Küche seines Hauses in Lichtenrade und überlegt, wie das alles begann. Es ist eine Männerküche. Hier steht nichts rum. Ein Entsafter ist die einzige Dekoration auf den weißen, blanken Flächen. Mehr machte ihn gewiss nervös. Er hat die Idee bereits schützen lassen, damit nachher niemand sagen kann, er hätte sie auch schon gehabt. Ja, er hat ihr sogar eine eigene Website eingerichtet. Und Annoncen aufgegeben, auf denen stand: „Einheit: Denk mal! Einheitsdenkmal.com“. So, als gäbe es nur die eine: seine Idee.

Dabei gab es, so ziemlich genau vor einem Jahr, bereits 532 andere. Damals durften alle am Gestaltungswettbewerb teilnehmen, genau wie an der deutschen Einheit. Dafür wurden aber auch alle abgelehnt, wegen Unterbietung der Aufgabe, und ein neuer Wettbewerb wurde ausgeschrieben, mit neu formulierter Aufgabenstellung. Und deshalb gibt es zu den 532 alten Ideen jetzt zusätzlich 382 neue Bewerber, Quint inklusive.

Der Sonderschullehrer aus Berlin-Lichtenrade fürchtet weder die einen noch die anderen. Und doch hat er große Angst vor dieser Woche. Ab heute tagt eine Kommission, die aus den 382 Bewerbern 30 auswählen soll für den Schlusswettbewerb. Teilnahmeberechtigt sind diesmal nur Architekten, Landschaftsarchitekten und Künstler. Sie bewerben sich auch nicht mit ihrer Idee, sondern nur mit ihrem Namen und Renommee. Er, Wolfgang Quint, hat also gar keine Chance? Haben sich die Künstler und Architekten im vergangenen Jahr nicht so furchtbar blamiert? Das Fazit eines Jurymitglieds lautete: „Ein Viertel der Entwürfe war kompletter Schrott, aber auch die restlichen drei Viertel genügen unseren Maßstäben nicht.“

Und dabei waren Namen darunter, so große, dass Wolfgang Quint es noch vor einem Jahr für unvorstellbar gehalten hätte, mit denen am selben Wettbewerb teilzunehmen. Ja, ohne dieses Fiasko wäre er nie auf die Idee gekommen, eine Idee zu haben. „Es war merkwürdig“, sagt er, „aber ich fühlte mich persönlich angegriffen und beschämt. So viel künstlerische Leere! Erinnern Sie sich noch an die Banane?“ Da war nichts als ein Sockel mit diesem Obst, dem Symbol des bis eben Unerreichbaren für so viele Ostler.

Am 9. November 2007 hatte der Deutsche Bundestag beschlossen, zum Gedenken an die friedliche Revolution 1989 und die Rückgewinnung der deutschen Einheit ein Denkmal zu errichten. Als nationales Symbol soll es in der Mitte der deutschen Hauptstadt errichtet werden, zwischen wiedererstehendem Schloss und Spreearm, genau dort, wo bis zum Kriegsende das Denkmal für Kaiser Wilhelm I. stand. „Das war so ein typisches Reiterstandbild“, sagt Quint mit einem Unterton wie: nicht schade drum, auch wenn er der Reichsgründer war. Zuvor hatte Wilhelm I., noch als Prinz, als „Kartätschenprinz“, die Revolution von 1848 niederschießen lassen. „Was für ein Ort“, sagt Quint, „dem muss man doch gerecht werden!“ Da kann man doch keinen Einheits-Trash aufstellen.

Auf dem Esstisch ist kein Platz mehr - da steht nun die Idee

Auf Wolfgang Quints Esstisch ist nicht mehr so viel Platz wie früher, denn da steht nun schon seit Monaten die „Idee“, ein akribisches Modell, gearbeitet aus Holz und Messing. Es nimmt alles auf: den Ort an der Spree, wie er einmal war, mitsamt der Kolonnaden, die das Reiterstandbild einst umgaben. Nur dieses selbst fehlt. Auf seinem Sockel steht dafür: ein Fenster. Ein dreisprossiges Barock-Flügelfenster, wie herausgelöst aus der Fassade des Schlosses dahinter. „Aber das ist kein gewöhnliches Fenster“, erklärt Quint, „das ist ein Zeitfenster.“ Er schmeckt das Wort auf seinen Klang und seine Bedeutung hin und findet beide noch immer so unverbraucht wie am ersten Tag.

Irgendwann im vergangenen Frühjahr sind ihm die Bilder vom 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz eingefallen, als sich dort eine halbe Million Menschen aus der ganzen DDR trafen. Viele sprachen, besonders viele Schauspieler und Autoren. Und dann stand da der Schriftsteller Stefan Heym, der jüdische Chemnitzer Fabrikantensohn, der mit der US Army und als amerikanischer Staatsbürger zurückgekommen war und lange geglaubt hatte, die DDR könne ihm Heimat werden. Er sagte: „Es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen! Nach all den Jahren der Stagnation …, den Jahren von Dumpfheit und Mief, von Phrasengewäsch und bürokratischer Willkür, von amtlicher Blindheit und Taubheit.“

Aber Heym meinte nicht einfach Fenster, sondern geöffnete Fenster, ja vielleicht meinte er sogar Durchzug. Und er hat von ihnen gesprochen, als die Mauer noch geschlossen war, genau fünf Tage vorher. „Mir ist doch vollkommen klar“, sagt Quint, „dass ich nicht einfach ein Fenster auf einen Sockel stellen kann wie andere ihre Bananen.“ Was ihn an den Entwürfen gestört hat, war neben ihrer Einfallslosigkeit vor allem ihre Statik.

Bei ihm ist nichts statisch. Natürlich geht sein Fenster auf. „Und wissen Sie auch, wann?“ – Quints Gesicht nimmt einen beinahe triumphalen Ausdruck an: „Jeden Tag genau um 18.57 Uhr!“ Sagt es und wartet ab. Es gibt zwei Arten von Menschen. Die einen können mit dieser Uhrzeit etwas anfangen, die anderen nicht. Der Denkmalsschöpfer ist hochzufrieden mit der Reaktion seiner Testperson. Am 9. November genau um 18.57 Uhr sagte das Politbüromitglied Günter Schabowski den bedeutendsten Satz der jüngeren deutschen Geschichte: „Das tritt nach meiner Kenntnis ... ist das sofort, unverzüglich.“ Ein Zeit-Fenster! So, wie dann auch Altkanzler Kohl schon ab Dezember 1989 sein Zeitfenster nutzte, wenn man so die historischen Möglichkeitsräume nennen will, in denen Dinge geschehen können, die bis eben undenkbar waren. Selbst Abstrakta wie dieses sage sein Denkmal mit, obwohl es doch zuerst einfach nur der Schlossfassade dahinter Antwort gibt und ein schönes altes Barockfenster ist. Schließlich soll das Denkmal auch tief in die deutsche Geschichte weisen. Er hat es aus Messing gemacht. Er liebt dieses Metall.

Und müsse er noch erwähnen, dass das Fenster genau in Ost-West-Ausrichtung stehe? Und dass es sich nach Westen öffnet? Der Sonderschullehrer rückt sein Modell ins Profil, da ist es plötzlich unverkennbar: Das Fenster steht schief! „Ja“, sagt Quint, „das war nämlich kein einfaches Aufmachen.“ Das Fenster ist nach Westen geneigt wie fast das ganze DDR-Volk: „Aber versuchen Sie mal, von Osten her ein nach Westen geneigtes Fenster zu öffnen!“ Das braucht schon besondere Kraft. Eine kleine Neigung nur, und doch viel mehr als das. Vielleicht ist diese Schräge das Schönste an Quints Idee. Es gibt geniale Winkel, dies könnte einer sein.

Das Thema „Einheit“ vertändeln? Nein, dafür ist es ihm viel zu nah

Nach dem gescheiterten Wettbewerb vor einem Jahr sind alle Entwürfe im Kronprinzenpalais ausgestellt worden. Quint ist sofort hingegangen. Zum einen aus negativer Faszination – „es waren auch ein paar ganz vernünftige Sachen dabei, die hätte man schon bauen können“ –, vor allem aber aus Angst. Mit wachsender Unruhe ging er von Entwurf zu Entwurf: Was, wenn nun doch jemand seine Idee vor ihm gehabt hatte? Einerseits gehört sie ihm, andererseits liegt sie – wie alle zwingenden Einfälle – irgendwie auf der Hand, also war es nur eine Frage der Zeit. Er war der Erste. Und so ist das letzte Jahr zu einem Denkmalsjahr für ihn geworden. Und nun ist gleich alles vorbei? 30 aus 382. Und nur, weil er von Beruf kein Künstler ist, sondern Sonderschullehrer aus Lichtenrade.

In einem gewissen Sinn, das weiß Quint selbst, schließen beide Daseinsformen sich wirklich aus. Ohne eine schwere Krankheit hätte er wie all die Jahre zuvor vor seiner Sonderschulklasse gestanden. Quint lächelt. Er ist immer gern Lehrer gewesen. Und doch, in seinem geregelten Schulalltag hätte er keine einzige Nervenzelle frei gehabt für Denkmalsprobleme.

Vielleicht macht eine schwere Krankheit jeden zum Künstler. Allein diese postoperative Daseinsform: im Bett liegen, und die Gedanken kommen zu Besuch. Ja, er könnte sich auf Thomas Mann berufen! Oder auf Hermann Hesse. Stattdessen hat er der Kommission des Bundesamts für Bauwesen und Raumordnung einen zweiseitigen Brief geschrieben und um eine Sonderzulassung als „Laie“ gebeten. Und in sieben Punkten versucht, seine künstlerische Kompetenz nachzuweisen. Schließlich hat er fast 40 Jahre Kunst unterrichtet. Von der „Einbeziehung und Umsetzung künstlerischer Aspekte im Fach Arbeitslehre Holzverarbeitung“ hat er der Kommission berichtet und von seiner „erfolgreichen Teilnahme am bundesweiten Fotowettbewerb ‚BeDenkmal’ 1992“. Da ging es auch schon um ein Einheitsdenkmal, bloß in Plakatform.

Muss er sich denn rechtfertigen? Dieses gesteigerte Zusammenspiel aus Intellekt, Fantasie und Können, das er erlebt hat, die immer neuen Verbindungen von Sinn und Sinnlichkeit – war es nicht das Erlebnis Kunst selbst gewesen? Quint besteht ausdrücklich auf der alten Komplizenschaft der Kunst mit dem Können.

Ein Thema wie die Einheit darf man nicht vertändeln, dazu ist es ihm zu nah. Er denkt daran, wie er als Junge zu Besuch bei seiner Tante direkt auf den Checkpoint Charlie herunterblickte und später in Lichtenrade auf die Grenzanlagen. Auf der einen Seite Menschen mit Hund. Auf der anderen Seite Menschen mit Hund.

Jeden Abend bei Fensteröffnung soll Musik erklingen, immer wechselnd von Karats „Über sieben Brücken“ bis zum „Wind of Change“ der Scorpions. „Oder auch etwas anderes“, sagt Quint schnell nach einem prüfenden Blick auf sein Gegenüber. Und die beiden unteren Sprossenfenster seien verspiegelt. Kurz vorher sehe man auf der einen Seite Szenen aus der Geschichte West, auf der anderen Szenen aus der Geschichte Ost: „Haben wir die jeweils andere Seite nicht wie durch ein Fenster wahrgenommen? Die Ostler hatten ohnehin nur den Fernseher als Fenster in die Welt.“

Ja, schon. Aber muss das Fenster nicht irgendwann wieder zugehen? Und ist das dann nicht peinlich? „Keineswegs“, sagt Quint. Er sei durchaus darauf gefasst, dass die Bananenfraktion ihm Einheitsdisneyland oder was auch immer vorwerfe, aber so leicht sei er nun doch nicht zu stellen. Denn wenn sich das Fenster wieder schließe, sehe man auf beiden Seiten dasselbe: „Und zwar Momente aus unserer gemeinsamen Geschichte seit 1990.“ So viel zum Bildungsauftrag des Denkmals. Und Quint hat noch viel, viel mehr.

Was alles ist Kunst? Kunst ist nicht zuletzt Weglassen, das weiß auch er. Aber um etwas weglassen zu können, muss man es da nicht erst einmal haben?

Wilhelms Reiterstandbild war von Kolonnaden umgeben. Sie würden sein Fenster gleichsam umarmen, aber nach oben hin würde keine beruhigte geometrische Form sie abschließen, sondern eine steinerne Welle, denn etwas muss doch spürbar sein von der Begeisterung damals.

Und so baute er in seiner Kellerwerkstatt auch die Säulen, baute Tage und halbe Nächte durch. Genau 28 Säulen sollten es sein, für jedes Jahr, das die Mauer stand, eine Säule. Die letzte war an einem Spätherbsttag morgens um vier fertig. Und damit der ganze Entwurf. Quint zählte zur Sicherheit nach. Da waren es nur 27. Er zählte noch einmal. Es blieben 27. „Ich hab’s doch gewusst, es kommt nichts dabei raus! Nun kannst du das alles noch einmal bauen!“, sagte der Oberlehrer Quint zum Ideenhaber Quint. Dieser fühlte schon, leise, aber deutlich aufsteigend, das Bedürfnis, die Arbeit so vieler Monate einfach gegen die Kellerwand zu werfen. Da fiel ihm der Künstler Quint in den Arm: „Die Säule für das 28. Jahr, das Maueröffnungsjahr, inklusive Umarmungsherbst, hängen wir selbstverständlich in die Luft. Die 28. ist eine Schwebesäule. Mag sich jeder darunterstellen und die Wirkung selbst beurteilen.“ Quint zeigt auf die Säule ohne Bodenhaftung: „Sahra Wagenknecht würde vielleicht sagen: Sie erschlägt uns! Und andere sagen: Die haben wir gestemmt!“

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