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Nicht ohne meine Stulle: Berliner in der Elektrischen, eine Illustration aus dem Buch.

© Repro: vbb-Verlag

Neues Berlin-Buch: Ein Yankee 1910 an der Spree: Hier ist Küssen nicht verboten

Ständig hungrig, aber locker drauf und weltoffen: Der amerikanische Schriftsteller und Journalist Henry F. Urban veröffentlichte 1911 eine Hymne auf die Berliner und ihre Stadt. Wochenlang flanierte er zuvor durch die Straßen der Reichshauptstadt. In seinem amüsanten Buch ,,Die Entdeckung Berlins" vergleicht er Berlin mit New York. Michael Bienert hat es im vbb-Verlag neu herausgegeben.

Berlin 1910. Kaiser Wilhelm II. wird in seiner Kutsche Unter den Linden respektvoll gegrüßt und hält sich für ein „Instrument des Herrn“. Das preußische Drei-Klassen-Wahlrecht ist noch in Kraft. Da sollte man meinen, dass ein welt- und metropolenerfahrener Yankee und Autor aus New York eher mit spitzer Feder über die deutsche Hauptstadt schreibt, wenn er dort zu Entdeckungstouren loszieht.

Aber weit gefehlt. Der Deutschamerikaner Henry F. Urban flaniert durch die mächtig wachsende Reichshauptstadt und freut sich über „die frische, sprudelnde Lebendigkeit“ der Berliner, über die „unzweideutige, konzentrierte Klarheit ihres wohlklingenden Dialektes“ und darüber, dass sich junge Leute am Ku’damm am helllichten Tage ungezwungen küssen, was im „puritanischen New New York gänzlich unmöglich wäre“.

Was er damals so alles beobachtete und mit seiner Heimatstadt verglich, das hat der 1862 in Berlin geborene und aufgewachsene, mit 25 Jahren in die USA ausgewanderte Schriftsteller 1911 in einer Artikelserie für den „Berliner Lokalanzeiger“ mit viel Augenzwinkern im charmant-kabarettistischen Plauderton erzählt. Danach erschien die Serie als Buch. Titel: „Die Entdeckung Berlins“. Der Journalist und Tagesspiegel-Autor Michael Bienert hat diesen zu Unrecht vergessenen Streifzug wiederentdeckt, mit einem Nachwort versehen und neu herausgegeben.

Der deutsch-amerikanische Schriftsteller Henry F. Urban.
Der deutsch-amerikanische Schriftsteller Henry F. Urban.

© vbb-Verlag

Man liest es mit Genuss. Henry F. Urban streichelt die berlinische Seele, indem er genauso wie viele heutige US-Gäste jede Menge Positives entdeckt und liebevoll beschreibt – von den vielen Cafés und Balkonen, den grünen, luftigen Straßen bis zum „riesengroßen Durst des Berliners nach Lebensgenuss“ oder der „funktionierenden Müllabfuhr“. Er notiert: „Wenn wir so etwas doch in New York hätten.“ Und bedauert die hektische Jagd auf den Dollar, die „Dollaritis“, der Amerikaner. Aber manches, wie die Bürokratie, ist ihm auch unheimlich – zum Beispiel die „Einkommenssteuerveranlagungskommission“. Und würden nicht auch die Spreewälder Kindermädchen im Tiergarten beschrieben oder Kutscher und ungeheizte Straßenbahnen, so könnte man annehmen, Henry F. Urban hätte die Marotten der Berliner erst gestern beobachtet. Vor allem deren ständige Angst vorm Hungertod: "Der Berliner fürchtet, wie es scheint, einen leeren Magen uns sonst nichts auf der Welt . . . Irgendwo in seinem Anzug scheint der er eine Tasche zu haben, in der immer eine belegte Stulle sitzt, zum Schutz vor dem Hungertode."

Eindrücklich schildert Urban die damals neuen spannenden Seiten Berlins neben dem Preußentum: den Aufbruch zur liberalen, quirligen Metropole samt weltweitem Imagegewinn. Eine geistige Neuorientierung, die während der Weltkriege und der Nazizeit wieder gründlich ruiniert wurde.

Die Entdeckung Berlins, Henry F. Urban, Herausgeber: Michael Bienert, vbb–Verlag für Berlin-Brandenburg, 182 S., 18,99 Euro.

Elegant und international: Berlin 1910, Unter den Linden
Elegant und international: Berlin 1910, Unter den Linden

© vbb-Verlag

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