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Neukölln

© Wolff

Neukölln: Endstation Ghetto

Nirgendwo gibt es so viele Probleme wie in Nord-Neukölln, behauptet Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky. Eine Rundfahrt durch den Kiez.

Auf den ersten Blick sieht man der Gegend nichts an. Die vierstöckigen Fassaden aus den 20er Jahren haben ihre hellgrüne und beige Farbe behalten. Im Neuköllner Priesterweg liegt nicht mehr Müll herum als in anderen Kiezen. Dann aber fällt die Insolvenzanzeige an der Tür zu einer Wäscherei auf. „Da vorne an der Ecke war vor kurzem noch eine Pizzeria, jetzt steht das Lokal leer“, sagt Arnold Mengelkoch. Er ist 52 Jahre alt und seit eineinhalb Jahren Migrations- und Integrationsbeauftragter im Rathaus Neukölln. Zuvor hat er 25 Jahre lang als Sozialarbeiter Neuköllner Problemfamilien betreut. Bei einer Rundfahrt auf dem Fahrrad zeigt er, was Bürgermeister Heinz Buschkowsky meint, wenn er sagt, dass Neukölln „der problembeladenste Stadtteil in ganz Deutschland“ ist. Weil sich Buschkowsky nicht damit abfinden will, dass immer mehr Kieze in Nord-Neukölln „entgleiten“, wie er sagt, hat er sich vor drei Wochen in Rotterdam und London angeschaut, wie man dort mit Verwahrlosung, Parallelgesellschaften und absackenden Kiezen umgeht und damit eine neue Debatte in der Stadt angefacht.

So fängt der Niedergang an, sagt Mengelkoch, Geschäfte und Lokale machen dicht, die Verschuldung der Familien nimmt zu, die „bio-deutschen“ Familien ziehen weg, bildungsferne Migrantenfamilien ziehen zu. In Britz-Nord, in den Vierteln um den U-Bahnhof Grenzallee, Buschkrugallee bis zum Britzer Damm und weiter in die Germaniapromenade hinein, liegt die Arbeitslosigkeit mittlerweile bei 25 Prozent, die Schulen haben einen Migrantenanteil von über 90 Prozent. In den vergangenen fünf Jahren hat hier ein Bevölkerungsaustausch stattgefunden. Eine junge Frau, bei 32 Grad mit Kopftuch und langem Mantel unterwegs, holt ihre Töchter von der Grundschule ab. Mengelkoch fragt sie, ob sie hier wohne und ob sie sich wohl fühle. Sie versteht die Frage nicht, weil sie kein Deutsch kann. Eine Tochter dolmetscht: Die Frau wohnt seit sieben Jahren hier. Mehr ist ihr nicht zu entlocken.

In seiner neuesten Untersuchung über Neukölln, die diese Woche der Öffentlichkeit vorgestellt wird, hat der Stadtsoziologe Hartmut Häußermann von der Humboldt-Universität Britz-Nord eine negative Prognose gegeben. Neukölln hat ein Problemgebiet mehr.

Häußermann empfiehlt, den ganzen Norden Neuköllns Quartiersmanagern zu unterstellen. Denn die Schwierigkeiten sind massiv: 150 000 Menschen leben hier, die Hälfte sind Einwanderer aus der Türkei, aus arabischen Ländern, insgesamt aus 160 Nationen. 65 Prozent leben unter der Armutsgrenze, jeder zweite lebt von Sozialleistungen. Es gibt Schulen mit Kindern, von deren Eltern kaum einer arbeitet. Und die Arbeitslosigkeit verfestigt sich: Mehr als die Hälfte der Jugendlichen verlässt die Schule ohne Abschluss oder mit Hauptschulzeugnis. Bei der Suche nach Wegen aus der sozialen und schulischen Misere sind die 20 Moscheen keine Hilfe, sagt der Migrationsbeauftragte. „Das sind unsere Gegenspieler“.

Nord-Neukölln hat bereits sieben Quartiersmanagementgebiete (QM). Sie wirken wie Inseln in einem Meer von Problemen. Das „Warthe-Mal“ ist so eine Insel. Fünf türkische und arabische Frauen haben das Café am Wartheplatz vergangenes Jahr gegründet. Vor ein paar Jahren waren die Frauen des Vereins „Esmeralda“ die ersten „Stadtteilmütter“, die in die Migrantenfamilien gingen und überforderten Vätern und Müttern ihre Hilfe anboten. Dadurch ist das eigene Selbstbewusstsein gewachsen. Noch werden die Frauen vom QM unterstützt. Nächstes Jahr wollen sie alleine klar kommen. Kinder lernen hier, wie man gesund kocht, arbeitslose Nachbarn essen billig zu Mittag. Weil die muslimischen Männer den Esmeralda-Frauen vertrauen, lassen sie ihre Frauen hierher kommen. Für viele ist das der erste Kontakt zur Außenwelt. Die Projekte der Kiezhelfer seien wichtige „Wohlfühlfaktoren“, sagt Mengelkoch. Sie belebten unwirtliche Viertel, vermittelten den Bewohnern ein Gefühl von Sicherheit, von „da tut sich was“.

Die grundsätzlichen Probleme aber konnten die rund 800 Projekte und die 25,7 Millionen Euro, die in den vergangenen neun Jahren an QM-Geldern in Nord-Neukölln investiert wurden, nicht lösen. Sie konnten die Kieze nicht umdrehen, sie konnten nicht verhindern, dass die bildungsbewussten deutschen Familien weggezogen sind. In einigen Vierteln ist die „Segregation so gut wie abgeschlossen“, heißt es in einem Bericht der QM-Leitung vom März diesen Jahres.

Bezirksbürgermeister Buschkowsky fordert deshalb, dass die „Gutmenschen-Angebote“ mit repressiven Maßnahmen einhergehen und die QM-Büros zu Orten werden, wo sich Polizisten, Schulleiter, Sozialarbeiter und Richter gemeinsam um problematische Familien kümmern. So ähnlich sieht das auch das Team vom QM Schillerpromenade. Es ist eines der größten QM-Gebiete und zuständig für 20 000 Menschen zwischen Flughafen-, Oder-, Emser- und Hermannstraße. „Wir haben zehn Jahren lang geschaut, wie man neue Strukturen legen kann. Wir haben die Anwohner so weit, dass sie kommen und sagen: Wir haben ein Problem“, sagt Kerstin Schmiedeknecht, die Leiterin des QM. „Jetzt müssen wir eine Stufe weitergehen und Prävention mit Intervention verknüpfen.“ Zum Beispiel in der High-Deck-Siedlung, in der am südöstlichen Ende der Sonnenallee 5000 Menschen wohnen. Innerhalb kürzester Zeit seien 25 Roma-Familien zugezogen mit schätzungsweise 100 Kindern. „Das hat zu großen sozialen Verwerfungen geführt“, sagen Mengelkoch und Kiezhelfer. Die Schule in der Nachbarschaft habe nun ein Drittel Roma-Kinder. Es gebe Hinweise auf Kinderprostitution. Mit netten Hinterhoffesten sei es da nicht getan. „Wollen Sie sehen, wo sich die Jugend Neuköllns mit Waffen eindeckt“, fragt Arnold Mengelkoch und parkt sein Fahrrad vor einem Geschäft Karl-Marx–Straße Ecke Reuterstraße. Auf der Scheibe spiegeln sich Abdrücke von Händen aller Größen und plattgedrückten Nasen. Dahinter liegen Gewehre, Pistolen und Messer.

Zum Abschluss der Neukölln-Tour führt der Integrationsbeauftragte dorthin, wo die Hoffnung wächst: in den Reuterkiez an der Grenze zu Kreuzberg. In den vergangenen drei Jahren haben – auch Dank der „Zwischennutzungsagentur“ – ein paar Cafés und kleine Läden eröffnet, wo zuvor öde Flecken randalierende Jugendliche angezogen hatten. Die Köpfe der Jugendgang sitzen im Gefängnis. Jetzt haben sich eine Hutmacherin, ein Geigenbauer, Buchläden und Boutiquen angesiedelt. Die Laufkundschaft habe zugenommen, sagt eine Boutiquebesitzerin, die Kaufkraft steige. Noch ist der Aufschwung ein zartes Pflänzchen, sagt Mengelkoch bei einer Apfelschorle im Restaurant „Mona Lisa“ am Maybachufer. Ob es wächst, hänge davon ab, ob bürgerliche Familien mit Kindern dauerhaft hierherziehen. Sonst könne der Zauber morgen wieder vorbei sein.

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