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Berlin: Nicht rasen, um Gottes Willen

Berlins Motorradfahrer trauern um Unfallopfer

Um Gott ganz nah zu sein, klettern manche auf Berge oder meditieren oder gehen ins Kloster. Pfarrer Stefan Scheifele setzt sich auf sein Motorrad. „Da spüre und rieche ich, da merke ich, dass mich etwas durch die Kurve trägt.“ Und nein, die Gesetze der Physik meine er damit nicht.

Die 600 Menschen in der Schöneberger St. Matthias-Kirche scheinen genau zu wissen, wovon Scheifele spricht. Und die vielen hundert anderen, die draußen bei ihren Maschinen warten, ebenso. Wie jedes Jahr feiern Berlins Mottorradfahrer einen ökumenischen Gedenkgottesdienst. Am Vormittag sind sie im Trauer-Konvoi quer durch die Stadt gefahren, jetzt beten sie in der Kirche für alle tödlich verunglückten Fahrer. 38 sind es seit dem Gottesdienst im vorigen Jahr. 13 davon kamen auf den Straßen Berlins, 25 in Brandenburg ums Leben. Die hohe Zahl der Verkehrstoten sei keineswegs normal, sagt der evangelische Pfarrer Bernd Schade, der zusammen mit Katholik Scheifele durch den Gottesdienst führt. Seit einiger Zeit nehme er „Unaufmerksamkeit und Gereiztheit“ im Straßenverkehr wahr, das seien „Symptome einer um sich greifenden Niedergeschlagenheit.“

Doch Motorradfahrer sollten schlechte Gefühle niemals mit auf ihr Bike nehmen. Das wolle auch Gott nicht, sagt Schade. Und verweist in seiner Predigt auf die Schriften des Propheten Micha in der Bibel. Dort will ein Gläubiger wissen, wie er Gott zufrieden stellen kann (Micha 6, 6-8). Als Antwort werden ihm drei Dinge genannt, nämlich „Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott“. Das müsse man natürlich in die heutige Zeit übersetzen, sagt Schade. Und „Gottes Wort halten“ spiele eindeutig auf die zehn Gebote an. Die wiederum seien dem Menschen sinnvollerweise im Vorhinein mitgeteilt worden und nicht erst, nachdem er seine Fehler begangen habe. Also quasi eine präventive Maßnahme. Gott wolle aber niemanden einengen: „Er fordert nicht das, was ihm gut tut, sondern das, was uns gut tut.“ Und das schließe auch verantwortliches Motorrad-Fahren mit ein. „Damit ihr im nächsten Jahr wieder hier sitzt und nicht stattdessen auf unserer Liste steht.“ Auf der Liste sind die Namen aller 38 Unfallopfer festgehalten, nacheinander werden sie vorgelesen. Bei den allermeisten handelt es sich um Männer, der Jüngste war 17 Jahre, der Älteste 63.

Dann kommt das Vater Unser, und weil Pfarrer Scheifele weiß, dass viele Teilnehmer „Naturbelassene“ sind und also nicht oft in die Kirche gehen, hat er den Gebetstext extra auf einen Zettel drucken lassen. Auch beim Singen der Lieder müssen sich viele Motorradfahrer aufs Zuhören beschränken, dafür haben einige ihre Helme auf den Stufen vorm Altar niedergelegt – die Helme ergeben ein großes Kreuz. Draußen auf dem Winterfeldtplatz warten die restlichen Motorradfahrer vor ihren Maschinen und lauschen der Gottesdienst-Übertragung aus den Boxen. Die Suzukis, Hondas und Harleys glitzern in der Herbstsonne, auch hier ist Frieden eingekehrt.

Leider müsse man mit noch mehr Toten in den nächsten Jahren rechnen, sagt Clemens Bober, Vorsitzender des Rings der Berliner Motorrad-Clubs. Weil immer mehr Maschinen ABS hätten und viele nun meinten, ihnen könne nichts mehr passieren. Pfarrer Scheifele gibt allen Fahrern Gottes Segen mit auf den Weg – und einen guten Ratschlag: Wenn es einmal knapp werde auf der Straße, solle man den Herrn an diesen Gottesdienst erinnern: „Du hast mich doch gesegnet damals, jetzt steh´ auch zu Deinem Wort.“

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