zum Hauptinhalt
Rast an der Krippe. Sechs Wochen lang haben Isabelle (links) und die anderen Darsteller ihr Krippenspiel in der Neuköllner Martin-Luther-Kirche geprobt.

© Paul Zinken

Nord-Neukölln: Versöhnung im Kiez der Zuzügler

Nord-Neukölln verändert sich. Die Martin-Luther-Gemeinde profitiert davon und will Kirche für alle sein.

Ein kleiner Engel hüpft durch den Altarraum, ein Soldat hat sein Schwert an die Kirchenwand gelehnt und trinkt seine Cola. Vor dem Holzschuppen mit Krippe und Esel sitzt Isabelle. Unter ihr langes blaues Kleid hat die elfjährige Maria-Darstellerin ein Kissen gestopft. Rund 30 Kinder sind beim Krippenspiel, das an Heiligabend in der Martin-Luther-Kirche in Neukölln aufgeführt wurde, beteiligt: als Hirten, Schafe, Engel, im Chor oder als heiliges Paar.

Während die Gemeinde Weihnachten feiert, geht in der nahen Sonnenallee das Leben wie immer weiter. In den türkischen Grills drehen sich die Dönerspieße, die Baklava-Läden verkaufen ihre Süßwaren und in den Shisha-Bars rauchen die Gäste ihre Wasserpfeifen. Vor 100 Jahren wurde das Gotteshaus in die Häuserfront eingebaut. Heute ragt der Kirchturm im Viertel wie aus einer längst vergangenen Zeit heraus. Die Gemeinde der Martin-Luther-Kirche ist lebendig wie wenige in Berlin. „Da mache ich mit“, ist ihr Motto.

„Wir sind eine Gemeinde, die nach dem Stellenabbau beschlossen hat, weder die Arbeit einzustellen, noch das Haus dichtzumachen“, sagt Pfarrer Dieter Spanknebel. Von den mehr als 30 Festangestellten, die die Gemeinde in den 60er Jahren hatte, sind vier übrig geblieben: Neben einem Pfarrer und einer Pfarrerin sind das ein Diakon und ein Sozialarbeiter. Die Zahl der Gemeindemitglieder sank seit Ende der 60er Jahre von 20 000 auf 6000. Und doch erlebt die Gemeinde seit einigen Jahren einen Aufbruch.

„Wir wollen eine offene Kirche sein für alle, die Lust haben mitzumachen“, sagt Pfarrerin Monika Weber. Rund 250 Menschen helfen ehrenamtlich mit, darunter Putzfrauen und Professoren, Arbeitslose und Angestellte, Singles und Familienmütter, Arme und Gutsituierte. Es gibt Fotokurse für Jugendliche, ein tägliches Mittagsgebet, eine Gemeindezeitung und Übernachtungsplätze für Obdachlose. Am ersten Advent veranstaltete die Kirche einen großen Basar: Statt Kirchenbänken war der Raum voller Regale und Tische – überall Hausrat, Bücher, Koffer, Schuhe, Kunst und Nippes.

Der Kiez kommt in die Kirche

Schon in den 70er Jahren wurde das Gemeindezentrum zu einem Multifunktionshaus mit vielen Gruppenräumen umgebaut. „Hier darf sich jeder einbringen“, sagt der 59-jährige Norbert Busse. Der Anwalt organisiert in der Gemeinde jeden Montag einen Kulturabend. Die 83-jährige Ruth Werner kocht seit 13 Jahren einmal in der Woche im Gemeinde-Café. Dann bindet sich die frühere Wurstverkäuferin eine weiße Schürze um und balanciert ihre Gerichte durch den Raum: Meist sind die Tische in dem kleinem Café bis auf den letzten Platz belegt.

Die Mitglieder der Martin-Luther-Kirche, mitten im sozialen Brennpunkt-Kiez, der von Armut und hoher Kriminalität geprägt ist, haben in den vergangenen Jahren viel Kreativität entwickelt, um Geld für ihre Gemeinde zu verdienen. Sie kochen Marmeladen ein oder vermieten Gemeinderäume, etwa an die Weight Watchers. Rund 120 000 Euro für Sachkosten erwirtschaftet die Gemeinde im Jahr selbst. Im Gottesdienstraum zeigt Pfarrer Spanknebel die Gedenktafeln für Verstorbene, die in den Boden eingelassen sind. Zwischen 750 und 900 Euro kostet eine Tafel, der Erlös kommt der Gemeinde zugute.

Die Kirche, die von morgens bis abends geöffnet ist, bietet einen Ruheraum im pulsierenden Leben auf der Straße. Überall im Gemeindehaus und auch im Gottesdienstraum hängen Kunstwerke: großflächige zeitgenössische Gemälde, die zum Meditieren einladen. Werktags springen, laufen und trödeln hier aber auch 20 Kinder mit ihren Eltern ein und aus, um in die Kita im ersten Stock des Hauses zu gelangen.

So kommt der Kiez in die Kirche – und auch die Veränderungen der Gegend. Der Reuterkiez, in dem die Kirche liegt, wird von Stadtforschern als „Aufwertungsgebiet“ beurteilt. Was so viel heißt wie: Die Arbeitslosigkeit hat hier stärker abgenommen als im übrigen Neukölln, die Kinderarmut geht zurück. Immer mehr junge Menschen mit höheren Einkommen ziehen in die Gegend, beobachtet auch Pfarrer Spanknebel.

Der Zuzug von jungen Familien bringe neuen Schwung in die Gemeinde, sagt der Pfarrer. Das macht sich auch an der regen Beteiligung beim Krippenspiel bemerkbar. Schon seit sechs Wochen proben die Kinder. Isabelle ist im vierten Jahr dabei – dreimal als Hirte, jetzt in der Hauptrolle. Die Veränderung im Kiez sei nicht für alle Gemeindemitglieder positiv. „Die Mietpreise steigen, für manchen eingesessenen Nachbarn wird das zum Problem“, sagt Pfarrer Spanknebel. Auch das ist eine Herausforderung für die Gemeinde.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false