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Berlin: Norris „Sirone“ Jones (Geb. 1940)

Seine Instrumente hatten Seele. Also hatten sie auch Namen

Seine Mutter putzte für die weiße Oberschicht in Atlanta, Georgia, USA. Eines Tages brachte sie ihrem Sohn eine ausrangierte Gitarre mit, der vier Saiten fehlten. Auf den verbliebenen zweien spielte sich Norris über Nacht die Finger blutig. Sein Vater, durch dessen Adern afroamerikanisches und indianisches Blut floss, warf die Gitarre am nächsten Tag weg. Norris rebellierte so lange, bis er eine neue bekam, eine mit sechs Saiten.

Später lernte er Posaune, da war er längst ein Mann des Rhythm ’n’ Blues. Sein Talent war offensichtlich, und doch wurde er aus fadenscheinigen Gründen aus dem Schulorchester geworfen. Als Farbiger in Atlanta war er derlei Ungerechtigkeiten gewöhnt. Zusammen mit seinem Freund George Adams, der Saxofon spielte, gründete er seine erste eigene Band. Eines Tages marschierte ein markanter Basslauf in ihm auf und ab. Er tauschte die Posaune gegen den Kontrabass und stellte fest: Der liegt mir noch viel besser!

Norris war groß und schlank. Er hatte geschmeidige, kraftvolle Hände. Zwei silberne Armreifen schmückten die Handgelenke. Wenn er sang, harmonierte seine dunkelweiche Stimme mit den voluminösen Tönen seines Instruments. Er nannte sich „Sirone“, ein Anagramm aus seinem Vornamen. Und weil Instrumente für ihn eine Seele besaßen, gab er auch ihnen Namen: Angel und Vera hießen seine Bässe.

Mitte der 60er zog er nach New York. Noch rechtzeitig kam er im Cellar Café an, um der Ausrufung der Oktoberrevolution des Jazz beizuwohnen. Sein Einstieg in die entfesselte Szene war famos. Ein Jahr lang begleitete er John Coltrane auf dem Bass. Oft wurde er gefragt, was für ein Mensch Coltrane gewesen sei. „Die Antwort steckt in seiner Musik“, sagte er da nur. Das galt ebenso gut für ihn.

In New York lernte er die Regisseurin und Schauspielerin Veronika Nowag kennen, eine Deutsche, die aus der DDR geflohen und nach Amerika gegangen war. Die beiden verliebten sich und lebten forthin in einer Künstler-Symbiose.

Musik war für Sirone nicht nur ein Ausdrucksmittel, er sah in ihr eine Friedensstifterin. Sie schenkte ihm Liebe, und diese Liebe gab er weiter, vorbehaltlos, zärtlich und wahr. Freudestrahlend oder mit geschlossenen Augen, komplett in Schweiß gebadet oder nahezu weggetreten, es schien, als schwebe er auf einer Welle anwachsender und in sich zusammenstürzender Gefühle.

Als er im Sommer 1989 mit einem Stipendium nach Berlin kam, zusammen mit Veronika, suchte er sofort Kontakte zu Jazzmusikern aus dem Ostteil der Stadt. Für ihn hat es nie eine Mauer gegeben. Berlin wurde neben New York sein zweites Zuhause.

Um den magischen Punkt in der Musik zu erreichen, brachte er täglich viel Disziplin auf. Er suchte überall nach neuen Formen, interpretierte Gedichte von Heinrich Heine und komponierte am Klavier. „Du darfst nie aufhören, weiter zu wachsen“, sagte er in einem Interview. Der Begriff des Free Jazz war dem Mitbegründer des New Yorker „Revolutionary Ensemble“ nach vier Jahrzehnten Entwicklung zu vage geworden. Zu oft war die Idee der politisch-musikalischen Revolution in selbstgerechte Interpretation und selbstverliebte Improvisation gemündet.

Wie nah das Leben am Abgrund verläuft, demonstrierte er gemeinsam mit Veronika in dem Theaterstück „Street Life“. Darin spielen sie zwei Obdachlose, die zunächst um den besten Platz zum Betteln buhlen, bis sie ihre Stärken bündeln und in trotzige Lebensenergie verwandeln. Sirone singt und spielt einen Blues auf dem Bass, der die ganze Schwerkraft des Lebens lässig von sich abstreift.

In den Armen von Veronika schlief er nach einem Krebsleiden ein. Stephan Reisner

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