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Berlin: Notruf für den Mittagstisch

Obdachlose essen in Neutempelhof gratis – aber das ist kaum mehr zu bezahlen

Plötzlich wird es still im Raum. Lydia Schmuck setzt sich auf einen Stuhl und liest eine Adventsgeschichte vor. Gespannt hören die rund 40 Obdachlosen und Bedürftigen zu. Jeden Montag kommen sie in die Evangelische Kirchengemeinde Neutempelhof zum kostenlosen Mittagstisch. Sie genießen die Ruhe und Besinnlichkeit mit Kerzen und Lesestunden, die es in ihrem Alltagsleben schon lange nicht mehr gibt.

Der tägliche Kampf um ein bisschen Geld zum Überleben und eine warme Schlafstätte lassen kaum Platz für solche Momente. Eine heiße und vor allem ausreichende Mahlzeit gibt es für viele der Anwesenden auch nur noch selten. Lydia Schmuck und ihre sieben Kolleginnen servieren diesen Mittagstisch hier seit sieben Jahren.

Die Idee dazu entstand im Jahr 1997. Damals hatte die Kirchengemeinde Neutempelhof im Rahmen einer Notfallhilfe einen Obdachlosen von der Boelckebrücke über die Winterzeit hinweg aufgenommen und ihm einmal in der Woche eine Mahlzeit gekocht. Aus einem Mittagsgast wurden bald zehn, schnell sprach sich das neue Angebot der Kirche herum – und zwei Jahre später kamen bereits regelmäßig bis zu vierzig obdachlose und bedürftige Menschen ins Gemeindehaus.

„Das Besondere an unserem Mittagstisch ist die private Atmosphäre“, sagt Lydia Schmuck. Sie engagiert sich bereits seit vielen Jahren in der Gemeinde und kennt auch ihre Montags-Stammgäste alle beim Namen. So hat sich der Mittagstisch im Laufe der Zeit zu einem wichtigen sozialen Treffpunkt für die Bedürftigen entwickelt.

Hier diskutieren sie mit Leidensgenossen über die Änderungen durch die umstrittene Hartz IV-Reform, die Gesundheitsreform oder andere politische und soziale Themen, die sie bewegen. Viele Stammgäste kommen bereits lange vor der eigentlichen Essenszeit. Sie helfen dem Gemeindeteam beim Stühlerücken, Tischdecken oder Fegen und plaudern schon ein wenig. Die finanziellen Mittel für das Gratis-Mittagessen bekamen Lydia Schmuck und ihre ehrenamtlichen Kolleginnen zuletzt durch Privatspenden. Auch über Kleider- oder Buchspenden freuen sich die Mittagsgäste sehr. Doch immer öfter reichen die Spendengelder nicht mehr aus, um den Mittagstisch zu bezahlen.

Lydia Schmuck musste vor ein paar Wochen schon einen ‚Notruf’ im Gemeindeblatt veröffentlichen. „Die Armut in Berlin wird offensichtlich größer. Derzeit besuchen uns viele Langzeitarbeitslose, die einfach nicht mehr über die Runden kommen“, erzählt sie. Nun hoffen Lydia Schmuck und die anderen Kirchenmitarbeiter sowie Obdachlose auch auf die Spenden unserer Tagesspiegel-Spendenaktion.

Die Adventsgeschichte ist mittlerweile zu Ende. Lydia Schmuck legt das Buch langsam zur Seite und steht auf. Ihre Kolleginnen servieren unterdessen die ersten Essensportionen.

Heute gibt es Leberkäse mit Blumenkohl, Bratkartoffeln und gemischtem Salat. „Das duftet herrlich“, sagt ein Mittagsgast, und seine Augen strahlen. Er ist froh, an diesem Tag einmal wieder satt zu werden.

Vivien Leue

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