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Berlin: NS - Zwangsarbeiter: Kirchengemeinden suchen nach Dokumenten über das Schicksal ihrer Ostarbeiter

Im April 1945 trat ein Offizier der Roten Armee vor Pfarrer Karl Wiese. An seiner Seite ein ukrainischer Zwangsarbeiter, den die Nikolasseer Gemeinde in den letzten Kriegsjahren beschäftigt hatte.

Im April 1945 trat ein Offizier der Roten Armee vor Pfarrer Karl Wiese. An seiner Seite ein ukrainischer Zwangsarbeiter, den die Nikolasseer Gemeinde in den letzten Kriegsjahren beschäftigt hatte. "Wie war er zu Dir?", fragte der sowjetische Offizier den Ukrainer. "Kak otjez - wie ein Vater", antwortete der Mann. Diese Episode hat Pfarrer Wiese kurze Zeit später in seiner Chronik der Kriegsjahre festgehalten. Sie scheint eine der wenigen Überlieferungen aus einer Zeit zu sein, die die Gemeinden jetzt wieder eingeholt hat.

Nachdem bekannt wurde, dass kirchliche und diakonische Einrichtungen in Deutschland in der NS-Zeit Zwangsarbeiter beschäftigt hatten, erklärte sich die Kirche am Mittwoch bereit, dem Entschädigungsfonds beizutreten. In Berlin ging die Jerusalems- und Neue Kirchengemeinde mit Aktenfunden über ein Barackenlager für 100 Ostarbeiter an die Öffentlichkeit. Jetzt beginnt in den Gemeinden die Aufarbeitung - und die Suche nach weiteren Dokumenten. Das Landeskirchliche Archiv werde jetzt zehn ABM-Stellen für die Recherche beantragen, sagt Archivleiter Wolfgang Krogel.

Jonas Weiß-Lange, der heute die Nikolasseer Gemeinde betreut, hat Wieses Aufzeichnungen gefunden, als er vor einem Jahr das Pfarramt übernahm. Dass Wiese sein Verhältnis zu dem Ostarbeiter als gut beschreibt, wundert Weiß-Lange nicht. Wiese sei Mitglied der Bekennenden Kirche gewesen. Aber wie handelten die Pfarrer der 28 anderen Gemeinden, die Arbeitskräfte aus dem Barackenlager auf dem Kirchhof der evangelischen Jerusalems- und Neuen Kirchengemeinde anforderten?

"Wir wissen leider nicht, wie die Ostarbeiter behandelt wurden", sagt Pfarrer Peter Storck von St. Jacobi in Kreuzberg. St. Jacobi war die erste Berliner Gemeinde, die auf Spuren des Lagers stieß. 1995 fand eine ABM-Kraft einen Schriftwechsel mit der Jerusalems-Gemeinde, in dem es um den Bau der Baracken ging. Dabei sei es nur um die Finanzierung der Baumaßnahmen gegangen, sagt der Pfarrer. Kein Wort über die Schicksale der Zwangsarbeiter. Jetzt, da in der Jerusalems-Gemeinde eine erste Liste mit Namen ukrainischer oder russischer Arbeiter aufgetaucht ist, wolle er versuchen, Kontakt zu Überlebenden aufzunehmen, sagt Storck. Zeitzeugen, die sich an Totengräber aus dem Osten erinnern könnten, fanden Storck und seine Kollegen schon 1995 nicht.

"Ich kann nicht reagieren, weil ich nichts weiß", sagt Pfarrer Alfons Kluck von der St. Hedwig-Gemeinde in Mitte. Der katholische Pfarrer in Berlin ist ratlos, wie er mit der Nachricht umgehen soll, dass seine Gemeinde im Zweiten Weltkrieg Zwangsarbeiter beschäftigt hat. In der einzigen Quelle, die sich aus der Kriegszeit erhalten hat, der Pfarrchronik, "steht nichts drin über Zwangsarbeiter", sagt Kluck.

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