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Ökologie trifft auf Ästhetik: Berlin und sein Fassadenfetisch

Ein Kunstwerk verschwindet unter Dämmplatten. Eine Grundsatzfrage – Schönheit oder Klimaschutz? Fassadenstreitigkeiten haben in Berlin Tradition. Was macht es mit einer Stadt, wenn ihre Bauherren oberflächenfixiert sind und darüber den Innenraum vergessen?

Am Morgen des 2. Juni 1965 schlüpft die Künstlerin Susanne Riée in ihre weißen Courrèges-Schuhe aus Paris, wadenhoch, aber mit einem vorwitzigen Loch für einen lackierten Zehennagel, und fährt nach Wilmersdorf zur Einweihung ihres ersten Fassadenkunstwerks in Berlin. Die dort anwesenden Fotografen werden ihre Objektive seltener auf Riées Werk an der Außenwand der städtischen Kindertagesstätte in der Prager Straße 10 in Wilmersdorf richten – immerhin blau-weiße Keramik aus Delft – als auf ihre Schuhe. Aber das ist natürlich die ganz eigene Art der Fotografen, eine Fassade zu würdigen.

Man rammte damals ein Rednerpult in den Bausand vor der Fassade, an Seilen sank feierlich ein Tuch herab. Auf einem Foto von diesem Moment scheint der Berliner Bär auf der Fahne am Rednerpult mit den Tieren auf der Keramik an der Wand zu sprechen. Es sind nicht nur die pomadigen Hinterköpfe der 60er Jahre zu sehen, auch der öffentliche Wille zu diesem Kunstwerk. Und die Wertschätzung Berlins für die Künstlerin.

49 Jahre nach dieser Feier sitzt Susanne Riée in ihrer schattigen Wohnung in der Potsdamer Straße, gießt einen Tee aus Paris auf und ist herb enttäuscht:

Im vergangenen Sommer schoss Riée die Idee durch den Kopf, alle ihre Kunstwerke, die an Berliner Bauten angebracht sind, einmal abzulaufen. Dass sie dafür den ganzen Sommer brauchte und den Herbst dazu, lag nicht nur daran, dass die Künstlerin mit inzwischen 87 Jahren langsam läuft, sondern dass ihre Keramiken so zahlreich in der ganzen Stadt verteilt sind.

Früher das Schöne. Als Susanne Riées erstes Fassadenwerk 1965 in Wilmersdorf enthüllt wurde, sah man neben pomadigen Hinterköpfen auch den öffentlichen Willen zur Kunst.
Früher das Schöne. Als Susanne Riées erstes Fassadenwerk 1965 in Wilmersdorf enthüllt wurde, sah man neben pomadigen Hinterköpfen auch den öffentlichen Willen zur Kunst.

© Privatarchiv Susanne Riée

Das Werk in der Schliemann-Grundschule in Rudow? Erstklassig erhalten. Das Relief in der Schwimmhalle Lankwitz von 1970? Tadellos. Das große Auge am Turm des Finanzamtes Reinickendorf von 1974? Blickt immer noch weithin sichtbar in die Welt. Die Uhr auf dem Schulhof der Charles-Dickens-Schule ist bis heute Treffpunkt der Schüler. Nur den Kaffeekannen-Brunnen in Kreuzberg hat das außerordentlich harte Berliner Wasser bis auf den Zement zerfressen.

Dann ging sie in die Prager Straße 10, um einen Blick auf ihr erstes Fassadenwerk von 1965 zu werfen. Sie sah: Emil und die Detektive. Genauer: Walter Triers Illustration zu Erich Kästners Kinderbuchklassiker. Aufgemalt auf eine Wärmedämmfassade. Nichts gegen Kästner, der an diesem Ort einmal gewohnt hatte, aber von ihrer vier Meter hohen Keramik war keine Spur mehr zu sehen. So, dachte sie entsetzt, geht Berlin mit seinen Künstlern um? Bescheid gegeben hatte ihr niemand.

Heute das Gute. Susanne Riées Kunstwerk verschwand unter einer Wärmedämmung - ohne dass der Künstlerin Bescheid gegeben wurde.
Heute das Gute. Susanne Riées Kunstwerk verschwand unter einer Wärmedämmung - ohne dass der Künstlerin Bescheid gegeben wurde.

© Kitty Kleist-Heinrich

Seitdem immer mehr Häuser Berlins zum Wohle des Klimas mit geschwollenen Gesichtern auf die Stadt blicken, die Proportionen verzerrt, die Augen tief in die Höhlen der gedämmten Laibung gesunken, tobt eine geradezu hysterische Debatte: Darf man Stuckfassaden, darf man die Moderne, jegliche Ästhetik ökologischen Zielen opfern? Darf man die Stadtansicht den Anbietern von Wärmedämmverbundsystemen überlassen? 

Schon diese Frage entzweit die Stadt. Doch das Problem sitzt tiefer. Denn wurde in den letzten 20 Jahren im architektonischen Berlin überhaupt schon einmal etwas anderes diskutiert als Fassaden? Die Wärmedämmung ist ja bloß der aktuelle Anlass. Und in Wahrheit ist sie nur ein neues Symptom einer alten Krankheit: In dieser Stadt verwechselt man nämlich Fassaden schon mit der ganzen Architektur.

Berlin ist ein Tourette-Patient, der in jede Architekturdebatte hinein F... rufen muss. Wird die Stadtentwicklung diskutiert: F… Steht die Gestaltung des zentralsten Platzes der Hauptstadt an: F… Bundesweite Klimaziele: F… Denkmalpflege heißt hier, eine Fassade zu pflegen. Die Fassade ist das F-Wort Berlins.

Fehlt der Berliner Architektur die dritte Dimension?

Kritische Rekonstruktion? In den 90ern erstand das Stadtschloss erstmals als Malerei auf einer Plane - und stimulierte die Spendenbereitschaft für den Neubau.
Kritische Rekonstruktion? In den 90ern erstand das Stadtschloss erstmals als Malerei auf einer Plane - und stimulierte die Spendenbereitschaft für den Neubau.

© akg/Bildarchiv Monheim

Seit 1991 die Ära des Senatsbaudirektors Hans Stimmann begann, wurde in Berlin unter dem Stichwort „Kritische Rekonstruktion“ hauptsächlich über Fassaden geredet. Da war das Augenmerk auf den historischen „Bestand“ gerichtet, wobei Bestand meist die kaiserliche Grandezza meinte. Ihre Merkmale sind die Traufhöhe und die gewünschte klassische Lochfassade, das Verhältnis von Wand und Öffnung im Verhältnis von 60 zu 40, festgehalten in Gestaltungssatzungen, ausgerichtet nach dem „Planwerk Innenstadt“ von 1999. International brach die wilde Ära der Signature Buildings an, experimentierte man mit Räumen, doch in Berlin war alles nur Fassade. Eine ganze Architektengeneration war damit beschäftigt, pro oder kontra Stimmann zu sein. Aber egal, auf welcher Seite ein Architekt in dieser verbohrten Diskussion der 90er auch stand: Bemerkenswert war die bundesweit einzigartige Verflachung der Debatte auf zwei Dimensionen. Und so ist es heute niemandem peinlich, von der Fassade zu reden und ein ganzes Haus zu meinen. Wer an Berliner Baustellen zeigen will, was entsteht, druckt auf sein Schild keine Grundrisse, sondern richtet ein Fassadenstück auf. Als würde das etwas über die Räume aussagen und das Wohngefühl. Berliner werden Paten von Fassadenteilen des Stadtschlosses, je nach Solvenz für einen Löwenkopf, einen Steinadler oder bloß einen Stein. Das Stadtschloss würde heute gar nicht gebaut, hätte nicht ab 1993 anderthalb Jahre lang eine Plastikplane in Originalgröße die Fassade simuliert und die Spendenbereitschaft stimuliert. Zur Zeit steht eine Attrappe für die Schinkel’sche Bauakademie und am Leipziger Platz sind Folien Platzhalter für die Geschäftshäuser, bis die Bausubstanz steht. Man hat der Architektur die dritte Dimension geklaut. Wie kann das geschehen, die Verblendung einer ganzen Stadt?

Höchste Ansprüche. Susanne Riées Fassadenkunst sollte Wind und Wetter standhalten, heute ist sie Untergrund einer Wärmedämmung.
Höchste Ansprüche. Susanne Riées Fassadenkunst sollte Wind und Wetter standhalten, heute ist sie Untergrund einer Wärmedämmung.

© Mike Wolff

Susanne Riée hatte damals den Behörden garantieren müssen, dass ihr Kunstwerk ewig hält. Hatte mit den Unterlagen der Brennerei für Baukeramik aus Delft nachgewiesen, dass ihre Kunst standhalten würde: Salzen. Mineralen. Wind und Wetter, kurz: dem Einfluss der Elemente. Sie wusste, Keramik hält was aus. Man hat schließlich auch noch ganze Stücke gefunden, nachdem glühende Lava Pompeji verschüttet hatte. Aber ihre Arbeit ist jetzt trotzdem weg.

Anruf bei der Kita Nordwest, ein Eigenbetrieb Berlins. Detlev Nagi, der kaufmännische Geschäftsleiter, der zu diesem Zeitpunkt kurz vor seiner Pensionierung steht, sagt, es wäre geradezu sträflich gewesen, hätten sie die öffentliche Förderung aus dem Investitionsprogramm II, Investitionspaket 2009, zur energetischen Sanierung nicht angenommen und damit die Möglichkeit, langfristig Energie einzusparen. Sie haben ja eine Verpflichtung, die Kita wirtschaftlich zu führen.

Über das Kunstwerk an der Fassade sei nichts bekannt gewesen, nicht einmal der Name der Künstlerin. Es spielte auch keine Rolle. Denn damals ging es um Fristen und Geld, das nur in einem bestimmten Zeitraum abgerufen werden konnte. Das Kunstwerk war jetzt nur noch in seiner Eigenschaft als Untergrund relevant. Der Untergrund für ein WDVS, ein Wärmedämmverbundsystem, muss sauber und trocken sein.

Sie verhalten sich also im Frühjahr 2009 nach allen bekannten Maßstäben richtig, als sie das Bauatelier Garbers in Charlottenburg beauftragen, eine Energieberechnung durchzuführen. Und später, als ermittelt ist, dass eine Dämmung sich lohnt, auch mit der Bauleitung zu betrauen.

Christoph Garbers teilt sich sein backsteinernes Souterrainbüro mit einem raumgreifenden, komplett spielbereiten Schlagzeug. Garbers selbst ist ein raumgreifender Mensch, und was kann man über einen Architekten Besseres sagen.

Der Mann agiert im Auge des Sturms. In Büros wie diesen formt sich das neue Gesicht der Stadt. Denn seit die Politik per Gesetzgebung und Förderung ihre Klimaziele an die wirtschaftlichen Ziele des Bauherren gekoppelt hat, kommt es denen wie wirtschaftlicher Selbstmord vor, nicht zu dämmen. 2,3 Milliarden Euro betrug die Nachfrage nach vom Bund unterstützten Programmen für energieeffizientes Bauen und Sanieren allein im ersten Quartal 2014. Davon wollen alle etwas abhaben.

Das Bauatelier Garbers hat einen Schwerpunkt bei Schulen und Kitas. Es erstellt Energieausweise nach der Energieeinsparverordnung EnEV, führt Energiebilanzierungen nach DIN 18599 durch und erarbeitet Fördermittelanträge im Rahmen von KfW-Verfahren, Bundesmitteln und Förderprogrammen des Landes Berlin.

Garbers sagt, die Bauaufgabe für Architekten habe sich generell gewandelt. Die Aufgabe, der heute alles andere untergeordnet ist, lautet nicht etwa Schönheit, Originalität, Proportion, Denkmalpflege oder Stadtbild, sondern: CO2 einsparen. Aus diesem Ziel entstehen Zwangsläufigkeiten, die den Raum betreffen, das Aussehen, das Leben in einem Haus. Er hat sich selbst zum Energieberater fortbilden lassen, um „deren Sprache zu verstehen“. Also quasi aus Notwehr, um nicht den kunstlosen Standardlösungen von Fachplanern und Haustechnikern ausgeliefert zu sein.

Ein gewohnter Anblick dieser Tage: ein Haus in Berlin, das nachgedämmt wird.
Ein gewohnter Anblick dieser Tage: ein Haus in Berlin, das nachgedämmt wird.

© imago/McPHOTO

Die Computerprogramme für die Energieberechnungen, sagt Garbers, sind zuletzt immer ausgefeilter geworden. Sie berücksichtigen nun auch die Nutzung eines Zimmers – ein Schlafzimmer muss zum Beispiel eine geringere Temperatur garantieren als ein Wohnzimmer. Sogar der Mensch geht in die Energiebilanzierung ein: zwar nicht mit seinen Bedürfnissen, aber in seiner Eigenschaft als Wärmequelle. Mit der Tatsache, dass er im Durchschnitt pro Stunde 100 Watt Energieleistung an den Raum abgibt. Und wem das jetzt alles zu kleinteilig ist, der verkennt, dass es letztlich diese Details sind, die entscheiden, wie am Ende die ganze Stadt aussieht.

Garbers weiß sehr wohl, dass viele Rechnungen zweckdienlich sind und die wahren Beweggründe verschleiern. Die Umweltplakette in Berlin zum Beispiel: ein Konjunkturprogramm für die Autoindustrie. Es sei natürlich ökologisch ganzheitlich gesehen viel weniger belastend, einen Oldtimer zu fahren, bis er umfällt, als mit ungeheurem Energieaufwand einen nagelneuen Wagen zu produzieren, der dann am Ende weniger CO2 verbraucht. Auch in Sachen Wärmedämmung wird nur das fertige Gebäude berechnet, unberücksichtigt bleiben die Lebenszyklen der Baustoffe, der Energieaufwand der gesamten Recyclingkette und die Energieverluste durch untrennbare Verbundstoffe.

Um in Zukunft CO2 zu sparen, wird deshalb heute sehr viel Dämmstoff hergestellt. Damit diese Materialschlacht effizient aussieht, braucht es nur einen einzigen Hebel in der Rechnung, sagt Garbers: den Heizölpreis. „Der Steigerungsfaktor energetischer Kosten ist an den Heizölpreis gekoppelt.“ Die Annahme für dessen künftige Entwicklung bestimme, ob jemand zu dem Schluss kommt, dass sich eine energetische Sanierung „rechnet“. Bliebe aber die Preisentwicklung des Öls hinter den Annahmen zurück, sinke die Effizienz der Maßnahme. Und? – Mit dem Ölpreis habe man sich schon einmal geirrt. „Mitte der 80er Jahre hieß es ja: das Öl hält noch 20 Jahre.“ Komischerweise sei Öl immer noch da.

Schwarze Schafe manipulierten ihre Berechnungen an dieser Stelle. Als seriös gelte heute, „die Entwicklung der letzten fünf Jahre in die Zukunft zu verlängern“, sagt Garbers.

Unabhängig davon, ob die Maßnahme an der Kita Prager Straße also wirklich ökologisch oder ob sie ästhetisch ist: Bei der Verlängerung der Ölpreisentwicklung der letzten fünf Jahre kommt der Architekt zu dem Schluss, dass sie wirtschaftlich ist. Mit der Bewilligung der Fördermittel am 20. November 2009 nach den Kriterien des Programms 218 der KfW greift das Haftungsgebilde, mit dem Bauherren über Architekten und Handwerker im Bezug auf die einforderbaren Standards verbunden sind. Alles ist nun in ein enges Netz aus Bedingungen, Liefer- und Zahlungsfristen eingewoben, deren Einhaltung über den wirtschaftlichen Erfolg der Maßnahme entscheidet.

Eltern der Kita in Wilmersdorf überlegen bereits, wie sie eine geschichtsbewusste Entscheidung für die Fassade treffen können. Schließlich hat an diesem Ort einmal Erich Kästner gelebt. In Charlottenburg sitzt derweil der Architekt, der viele Kritikpunkte kennt, aber die energetische Sanierung als neue Lebensrealität der Architekten akzeptiert hat, in der auch er selbst sein Geld verdient. Seine Lösung: sich noch viel mehr mit den Details auseinandersetzen. Selber urteilsfähig werden. Entscheidungen nicht anderen überlassen. Und dann das kleinere Übel wählen: mineralische Dämmung zum Beispiel. „Wir verbauen immer noch Sondermüll“, sagt er. Und meint damit die erdölbasierten, leichter brennbaren Polystyrolplatten, mit denen andernorts gedämmt wird.

Und die Kita in der Prager Straße? „Ausgerechnet Susanne Riée“, seufzt Garbers. Es tut ihm leid, als er hört, wessen Kunstwerk da verschwunden ist, mineralisch hin oder her. Riée ist ihm ein Begriff als Künstlerin aus West-Berlin.

Mit der Dämmung kommen Sachzwänge - wirklich?

Riesenleinwand. Es ist schwer, in Wärmedämmplatten etwas zu verankern - doch zum Bemalen eignen sich Flächen wie hier an einem Plattenbau in der Landsberger Allee ideal.
Riesenleinwand. Es ist schwer, in Wärmedämmplatten etwas zu verankern - doch zum Bemalen eignen sich Flächen wie hier an einem Plattenbau in der Landsberger Allee ideal.

© Howoge

Aber eine gedämmte Fassade hat eben ihre eigenen Gesetze. Also mit der M 6 nach Lichtenberg hinaus, wo die technische Leiterin der Wohnungsbaugesellschaft Howoge – 70 Prozent des Bestands sind Plattenbauten – an der Landsberger Allee 228b vor einem Elfgeschosser im Wind steht. Angelika Niemeck betreut schon die zweite Dämmphase. In der ersten verschwanden die Fassadenelemente und Kunstwerke des Ostens von den Plattenbauten. Routiniert werden die sanierten Elfgeschosser nun nach etwa 15 Jahren auf Schäden kontrolliert und ausgebessert. Dabei stellte man fest: Mit 33 Meter Höhe haben sie die größten Leinwände der Stadt. Alle zwei Jahre wird nun ein Kunstwettbewerb ausgelobt, den in diesem Jahr das Künstlerduo JBAK gewonnen hat, zwei schwindelfreie Amerikaner, die nun mit Sprühdosen in der Hand mit einem Kran an einer Fassade rauf- und runterfahren, bis übereinander drei riesige Figuren erkennbar werden.

Die Besonderheiten gedämmter Fassaden hat die Howoge in die Ausschreibung gleich integriert: Durchbohrungen müssen am besten vermieden, in jedem Fall aber vorher geplant und einzeln isoliert werden. Schwarze Farbe ist tabu, die Fassade heizt sich sonst im Sommer zu schnell auf und verzieht sich. Bei zu hohen Kontrasten erwärmt sie sich unregelmäßig, arbeitet und reißt. Keramik anzubringen, wie Riée es tat, ist wegen des Gewichts schwer möglich.

Diese Ansammlung von Sachzwängen wird von Architekten, so scheint es beim Gang durch eine Stadt, in der derzeit überall nachgedämmt wird, akzeptiert wie das Wetter. Außerhalb ihrer Macht. Aber ist das wirklich so?

Weil es eben nicht die einzige Art sein kann, sich im Fassadenstreit 2.0 zu verhalten, weil die ganze geballte Unvermeidlichkeit so ohnmächtig wirkt, weil entmündigte Architekten ihre Fassaden nicht Haustechnikern und Fertigsystemanbietern überlassen sollten, muss jetzt Arno Brandlhuber besucht werden, ein ansässiger Aufsässiger, Architekt und Denker, Lehrstuhlinhaber an der Akademie der Bildenden Künste Nürnberg.

Einer, der sich nicht fügt. Arno Brandlhuber versucht, den architektonischen Standards Berlins klügere Lösungen entgegenzusetzen.
Einer, der sich nicht fügt. Arno Brandlhuber versucht, den architektonischen Standards Berlins klügere Lösungen entgegenzusetzen.

© brandlhuber+

Jenseits des Lamentos hat Brandlhuber nämlich Antworten gefunden. Zwei Antworten, um genau zu sein, für jeden Fassadenstreit eine. Er hat sie in Beton gegossen, auf dass sie für sich selbst sprechen. Sein Bürogebäude in der Brunnenstraße, gebaut auf einer alten Bodenplatte, einer Investorenruine aus den 90ern, ist ein „Angriff auf Stimmann“. Die zweite, die Anti-Villa in Krampnitz bei Potsdam, gebaut auf den ruinösen Resten einer Unterhosenfabrik, ist sein Kommentar auf die Dämmwelle, das allgemeine, energetisch korrekte Mützenwesen für Häuser.

Aus der gleichen Erkenntnis wie Garbers heraus – dass nämlich die aktuelle Entwicklung ein heikler Mix aus Industrieförderung, Konjunkturprogramm und Lobbyarbeit sei – zieht Brandlhuber, der Ruinenbaumeister, andere Schlüsse. Architekten müssen Widerstand leisten. Und eine Fassade muss sich aus den Ideen für das ganze Haus entwickeln. „Wenn ich zur Stimmann-Zeit nach Berlin gekommen wäre, hätte ich nicht überlebt“, sagt Brandlhuber. „Steintapeten“, nennt er verächtlich dessen Idealfassaden. Er kam vor fünf Jahren – drei Jahre nach Stimmanns Abgang – aus Köln und erklärte eine alte Bodenplatte in der Brunnenstraße 9 zu wertvollem „Bestand“, auf dem sich aufbauen ließ. Und hier sitzt er nun täglich in seinem berühmten Haus, das auch ihn berühmt gemacht hat, hinter der lichtdurchlässigen Polycarbonatfassade. Sie versorgt den Raum mit diffusem Licht und verbreitet Atelieratmosphäre, auch, wenn man nicht rausgucken kann. „Herrliches Licht zum Arbeiten“, schwärmt Brandlhuber. Und dass diese Beleuchtung der Arbeitsweise der Berliner Kreativen viel mehr entspreche als die in den Bürobauten, durch deren Fassadenlöcher das Sonnenlicht in die Bildschirme keilt.

Wand und Fenster im bestimmten Verhältnis. Die klassische Lochfassade - als Beispiel hier Hans Kollhoffs Leibniz-Kolonnaden in Charlottenburg - stehen für den Nachwende-Baustil.
Wand und Fenster im bestimmten Verhältnis. Die klassische Lochfassade - als Beispiel hier Hans Kollhoffs Leibniz-Kolonnaden in Charlottenburg - stehen für den Nachwende-Baustil.

© ullstein bild

„Nicht berlintypisch“, findet Brandlhuber die Fixierung auf die Gründerzeitfassade, als sei die der einzig schützenswerte Bestand der Stadt. „Der Berliner“, sagt er, „war ja schon immer schlecht angezogen und stolz darauf.“ Aber bei den Fassaden stülpe sich die Stadt plötzlich so ein komisches, historisches Kostüm über? Das passt doch nicht.

„Nicht berlintypisch“, habe das Amt damals zu seinem Bau in der Brunnenstraße gesagt. Und erteilte keine Genehmigung. „Um keinen Präzedenzfall zu schaffen“, vermutet Brandlhuber. Doch wenn das Amt sich bei vollständigen Unterlagen einen Monat lang nicht rührt, tritt die legendäre Berliner „Genehmigungsfiktion“ in Kraft. Der schöne Begriff ist Teil der Berliner Bauordnung, §70, Abs. 4, und wird im Rahmen einer vereinfachten Baugenehmigung angewendet.

Ist es nicht geradezu poetisch, dass Bauten wie jener in der Brunnenstraße in Berlin also von Amts wegen eine Fiktion bleiben müssen, selbst wenn sie in Beton gegossen an der Straße stehen und jeder klingeln kann? Andererseits, sagt Brandlhuber, sei es ein Armutszeugnis für die Stadt, dass nun sein „Kinkerlitzchen“ zu Architekturtourismus führe, „meine popelige Hütte, 15 Meter breit, gerade mal eine Million gekostet oder so ...“ Er glaubt: „In Köln hätte kein Hahn danach gekräht.“ Der Architekt freut sich allerdings an der Nickeligkeit, mit der er die Normen umgangen hat. „Ich habe ja alles übernommen. Die Deckenhöhen, die Traufkante, den Hyperkontext. Nur bei der Materialität nicht.“ Das Polycarbonat der Fassade wird sonst für Gewächshäuser genutzt. Günstiger als Naturstein ist es auch.

Der Gegenentwurf. Bei Arno Brandlhubers Haus an der Brunnenstraße in Mitte schafft eine Polycarbonatfassade diffuses Licht und Atelieratmosphäre.
Der Gegenentwurf. Bei Arno Brandlhubers Haus an der Brunnenstraße in Mitte schafft eine Polycarbonatfassade diffuses Licht und Atelieratmosphäre.

© brandlhuber+

Im Lichte der ersten gedieh die Idee für seine zweite Fassadenrevolution: die Anti-Villa, sein Wochenendhaus am See bei Potsdam. Sie ist nichts weniger als ein Angriff auf das System. Das Wärmedämmverbundsystem. Brandlhuber umgeht ja schon immer den klassischen Immobilienmarkt mit seinen Bauträgern und Generalunternehmern weiträumig. Er dachte auch diesmal weiträumig drumherum – und setzte einfach auf der anderen Seite der Gleichung an, bei den Energiestandards: Könnte man mit weniger nicht mehr erreichen? Allein die Erwartung, ganzjährig überall das gleiche Klima aufrechtzuerhalten: Brandlhuber dachte an seine fränkischen Großeltern, in deren Haus im Winter nur die Stube warm war, das Wohnzimmer über der Küche. Es war kein unangenehmer Gedanke.

Er würde ein Haus ohne Heizung bauen. Und er würde nicht dämmen.

Anti-Villa als Ausweg, Architektur als soziale Frage

Die Anti-Villa. Statt durch Wärmedämmplatten will Arno Brandlhuber Klimaschutz durch eine flexible Raumaufteilung erreichen.
Die Anti-Villa. Statt durch Wärmedämmplatten will Arno Brandlhuber Klimaschutz durch eine flexible Raumaufteilung erreichen.

© brandlhuber+

Der Trick im fertigen Haus: Mit einem transparenten Plastikvorhang lassen sich im Winter die 500 Quadratmeter auf einen 70 Quadratmeter großen, als Wohnraum beheizbaren Kern verkleinern. Die Wärme dafür kommt aus der Sauna. Danach gibt es eine Mischzone, etwa so warm wie ein Wintergarten. Der Rest des Hauses bleibt im Winter zumindest frostfrei. So hat Brandlhuber in seinem Haus im Sommer viel zu viel Platz, kann deshalb Künstler dort einladen, arbeiten lassen oder auch nicht, es eröffnen sich viel mehr Möglichkeiten, als wenn einer nur überlegt, welche Standards er sich „leisten“ kann.

In einer Ausführungsbestimmung zur Energieberechnung stehe zum Beispiel, dass Baustoffe nicht in die Rechnung einfließen dürfen, wenn sie weniger als zwei Zentimeter dick sind, sagt Brandlhuber. Sein Vorhang ist natürlich weniger als zwei Zentimeter dick. „Hier wird deutlich, dass die Baustoffindustrie an den Formulierungen mitgearbeitet hat.“ Denn wem sollten sonst Vorschriften dienen, die vor allem helfen, standardisierte Produkte abzusetzen, indem konkurrierende Systeme und Lösungen mit geringerem Materialaufwand ausgeschlossen werden? 

Mehr als nur Oberfläche. Wie sehr die Fassadenfrage auch eine soziale ist, ließe sich auch an Berlins sanierten Stuckaltbauten erzählen.
Mehr als nur Oberfläche. Wie sehr die Fassadenfrage auch eine soziale ist, ließe sich auch an Berlins sanierten Stuckaltbauten erzählen.

© IMAGO

Das Schöne in der Architektur ist, dass sich die großen Debatten und Verdächtigungen immer an den kleinen, konkreten Details zeigen: Vorhangdicke! Heizölpreis! 40:60!

Und natürlich ist auch die Fassade eine echte Breitseite. Die Anti-Villa nutzt die Stümpfe der DDR-Fabrik als Basis. Brandlhuber hat Freunde lustvoll Fensteröffnungen herausbrechen lassen, er hat ein Flachdach aufgesetzt und schwärmt nun: Selbst der Putz sei noch original! Original hässlicher DDR-Putz nämlich, den wohl nur er selbst für erhaltenswert hält. Indem Brandlhuber auch bei Scheußlichkeiten mit heiligem Ernst „Bestand!, Bestand!“ ruft, persifliert er natürlich die Stimmann’sche „kritische Rekonstruktion“. Ein befreundeter Künstler sagte ihm: Dies sei das erste Haus, bei dessen Anblick er laut gelacht habe.

Der Vollständigkeit halber muss man sagen, dass die beiden provokanten Häuser Brandlhuber selbst gehören. Niemals wird ein Bauherr an ihn herantreten und die Einhaltung gängiger Standards fordern. Er bietet keine Lösung für die Masse. Aber es reicht, um darauf hinzuweisen, was in der Architektur sonst noch zählt.

Hans Stimmann ist ja nun schon seit Jahren ein Privatmann, längst gibt es auch in Berlin bodentiefe Glasfassaden und originelle Materialien im Wohnungsbau. Trotzdem entstehen hier immer noch lauter Häuser in Stimmann’scher Manier. Ja, sagt Brandlhuber, die steinerne Lochfassade sei leider das international gängige Bild des neuen Berlin geworden. So, wie der Marthashof in Prenzlauer Berg: eine Paris-Mailand-taugliche Architektur, „ein ökonomisch wirksames Modell, auf das sich die internationalen Investoren eingeschossen haben“. Es ist durchgerutscht bis in den Markt und wird nun vielleicht nicht mehr politisch gefordert, aber ökonomisch verlangt. Kritiker beißen da schnell auf, nun ja, Granit. Oder Travertin.

Niemand dürfe glauben, dass man mit der Fassadendiskussion nur über Oberflächliches rede, sagt Brandlhuber noch. Es gehe immer auch um das soziale Gebilde einer Stadt, um Mischung, Teilhabe und Eigentumsverhältnisse. „Die Fassade ist ein soziales Instrument, kein ästhetisches.“ Und, etwa mit den energetischen Sanierungen, auch ein Verdrängungsinstrument gegenüber all jenen, die neue Standards nicht bezahlen können. „Das segregierende Stadtmodell wird auch von diesen Fassaden begleitet.“ Homogenisierte Fassaden bedeuteten eine homogenisierte Stadtgesellschaft.

Die Diskussion über Fassaden sei selbst eine Fassade, hinter der sich soziale Kalküle, wirtschaftliche Anliegen, politische Absichten versteckten. Und wenn man das so sieht, fängt die Diskussion hier erst an.

Der Text erschien in der Tagesspiegel-Samstagsbeilage Mehr Berlin.

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