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Berlin: Ohne Molle an die Urne

Abstimmen ist heutzutage eine nüchterne Sache: Die Berliner Kneipe stirbt als Wahllokal aus

Gelegentlich kam es zu Pöbeleien, munteren Versuchen der Wahlbeeinflussung oder gar Handgreiflichkeiten, die einen Polizeieinsatz nach sich zogen. Die Wähler mussten schon mal durch die Hintertür ins Wahllokal geschleust werden, erinnert sich Wahlamtsleiter Stephan Walsleben. Das mochte man dem Souverän nicht mehr zumuten. Das Wahllokal ist in Neukölln abgeschafft. Gewählt wird nur noch in Schulen, Kitas oder Senioreneinrichtungen.

Das Berliner Wahllokal ist eine aussterbende Einrichtung. Der Frühschoppen zur Feier der Stimmabgabe ist nur in wenigen Stimmbezirken möglich. Walter Momper konnte 1995 noch in der Neuköllner Kneipe „Elbquelle“ sein Kreuz machen. Bis vor kurzem ging das auch im „Promenadeneck“ an der Schillerpromenade, doch mit dieser Bundestagswahl sind Zapfhahn und Wahlurne in Neukölln zum ersten Mal streng getrennt.

Auch in Mitte ist das Wahllokal auf dem Rückzug, obwohl Wahlamtsleiter Bernd Rogge entsprechenden Angeboten sehr aufgeschlossen gegenübersteht. „Wir hätten gerne mehr Räume, die für Rollstuhlfahrer geeignet sind.“ Gerade im Ausgehviertel um den Hackeschen Markt fehlt es an Wahlfläche.

Die „Rehberge-Klause“ im Afrikanischen Viertel in Wedding ist dagegen schon seit Generationen Wahllokal. Die Urne steht im Vereinszimmer der Aquarianer. Beim Kreuzchenmachen schauen Rotfedern und Guppys zu. In Reinickendorf stellen einige Hotels Räume zur Verfügung, ansonsten bleibt das Wählen auch hier ein nüchternes Geschäft. In Tempelhof-Schöneberg ging die Zahl der Wahllokale von drei auf zwei zurück. In Marzahn-Hellersdorf kann sich die Wahlamtsleiterin gar nicht daran erinnern, die Stimmberechtigten jemals in eine Kneipe geschickt zu haben. Beim Landeswahlleiter ist das Wahllokal längst durch neutrale Wortschöpfungen ersetzt. Der „Wahlakt“ wird am „Wahltag“ in einer „Wahlzelle“ des „Wahlraumes“ vollzogen. Zur „ordnungsgemäßen Ausstattung“ des Wahlraumes gehören nur „Tische, Stühle und Beleuchtungseinrichtung“. Weil das ziemlich nackt aussieht, schreibt der Gesetzgeber eine „würdige Ausgestaltung“ vor. Gemeint sind drei kleine Flaggen, links die der EU, mittig die deutsche, rechts die Berliner: „Gesicht des Bären nach links“.

Die 23000 Wahlhelfer werden meist aus dem öffentlichen Dienst rekrutiert, darunter viele Lehrer. Sie erhalten ein „Erfrischungsgeld“ von 16 Euro und einen freien Tag. Für den Normalbürger erhöht sich das Erfrischungsgeld auf 26 Euro, allerdings ohne freien Tag. Falls sich am Wahltag einige Helfer krank melden, halten sich in jedem Bezirk rund 100 Ersatzleute bereit. Auch an Wahlutensilien musste einiges ersetzt werden. 850 Briefaufschlitzer wurden neu beschafft, 15000 Kugelschreiber, 449 Wahlkabinen und 342 Wahlurnen.

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