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Im Quadrat. Square Dance in Old Texas Town.

© Polaris/laif

Old Texas Town: Spandau Wild West

Old Texas Town ist ein amerikanischer Traum, geträumt seit fast 70 Jahren weit im Westen Berlins. Wer einmal hergefunden hat, geht nie wieder weg.

Hinter braunen Palisaden, zwischen Mary’s Saloon, der Bank of Texas und dem Longhorn-Hotel, steht ein Mann auf der ansonsten menschenleeren Main Street. High Noon in der Western-Stadt. Ralf Keber harkt das Laub der Birken zusammen, die zwischen den Häusern stehen.

Keber trägt eine gefütterte Weste und Arbeitshosen, lange graue Haare und einen ebensolchen Bart, seinen „Gesichtspullover“, wie er ihn nennt. Die Lederstiefel sind der einzige Hinweis darauf, dass er hierhergehört, dass Ralf Keber die meiste Zeit seines Lebens Jack Hunter ist, sieben Tage die Woche zugegen, als Bürgermeister dieser Stadt, als Bürgermeister von Old Texas Town.

Da ertönt eine Fanfare, die Trompeten schmettern, als würde gleich die Kavallerie um die Ecke biegen. Keber kramt sein Handy raus, meldet sich mit: „Historische Westernstadt Old Texas Town, Jack, hallo?“ Am anderen Ende will einer zwei Karten reservieren für Samstag, wenn sich wieder einmal das Stadttor für alle öffnet, den nächsten Tag der offenen Tür. „Ist gut, zwei Plätze“, an einem Tisch in Mary’s Saloon, wo dann getanzt wird und gefeiert. Hinterher sagt Keber, „nach der Quadrille sollen wir ein bisschen länger auf der Bühne bleiben, da will er seiner Freundin einen Heiratsantrag machen.“ Keber nimmt das ungerührt zur Kenntnis, wird eingebaut, „geht klar, juti, Tschü!“

Ein Traum von Bonanza, von John Wayne

Old Texas Town ist ein amerikanischer Traum, geträumt seit fast 70 Jahren weit im Westen Berlins, Postadresse Paulsternstraße 18, in Siemensstadt, Spandau. Draußen wälzt die Geschichte durch die große Stadt, baut Mauern, reißt sie wieder ein, lässt Besatzungsmächte kommen und gehen, baut vorne raus eine Burger-King-Filiale und links eine „Eventarena“, und umgeben von den Palisaden lebt die Westernstadt stoisch weiter. Überlebt Brände und Bauvorhaben, als West-Berliner Unikum zuerst, und dann, seit der Wende, mit frischem Blut aus Ost-Berlin. Wächst, zieht immer von neuem Leute an, die hier ihr Glück finden können.

Die Stadt ist ein Traum von texanischer Weite, eingepfercht auf einem Hektar Land. Ein Traum von Bonanza, von John Wayne, der hier Ehrenbürger war, von Karl May, der Shiloh Ranch und einer Handvoll Dollar. Von Alamo und Winnetou, Wyatt Earp und Buffalo Bill: Welcome to the Cowboy Club Old Texas Berlin 1950 e.V., eingetragen im Vereinsregister beim Amtsgericht Charlottenburg. Auszug aus der Stadtordnung: „Waffen dürfen nur mit Genehmigung getragen werden.“

Jack Hunter sagt: „Nicht, dass man denkt, dass wir hier wie Kinder Cowboy und Indianer spielen, mit schießen, peng-peng-peng!“ Aber, sagt er, „wenn man dann in diese Sachen schlüpft“, unter Cowboyhüte, in die Lederstiefel, „dann ist man eben in einer anderen Welt, ja, isso!“

Kulissenhaft reihen sich hier eine Holzkirche, das Printing Office und das Jail aneinander, links und rechts der Main Street stehen die Stellmacherei, die Postkutschenstation Wells Fargo Express, gegenüber der Saloon, das Courthouse, der General Store, schließlich ein Dentist mit Apothecary, ein Wigwam und ein Nachbau von Fort Alamo. Nur, dass das alles eben keine Kulissen sind, sondern echte Häuser, die Innenräume bis ins Detail ausgebaut: Im Gefängnis gibt es Zellen mit Holzstockbetten, hinter dicken Eisengitterstäben, einem Geschenk der JVA Tegel.

Ausgehfein. Auch im Wilden West legte man Wert auf Stil.
Ausgehfein. Auch im Wilden West legte man Wert auf Stil.

© Kai-Uwe Heinrich

All das haben die 41 Vereinsmitglieder selbst gebaut, Planke für Planke, Stein für Stein. „Ich sach’ ja auch immer“, sagt Jack Hunter, „wir sind hier Modellbauer, aber wir bauen im Maßstab 1:1.“ Und mit dem Spleen, „dass man das eben so nachbaut, wie es 1870 war“.

Die Stadt ist Abenteuerspielplatz für ausgewachsene Männer und Frauen, mit berlinerndem Ernst und bloßen Händen erschaffen und erhalten. Und ein grandioses kollektives Unternehmen. Vermutlich ist dies das eigentlich Andere an dieser anderen Welt.

Ein Stück Arbeiterkultur, mitten im großen Berlin, das sich oft mehr nach Wildem Westen anfühlt als Old Texas Town: gesetzlos, wo der Einzelne zuweilen wenig zählt, wo oft das Recht der Stärkeren gilt und manchmal das der Fäuste.

Und, zweites Geheimnis, das hier ganz offen zur Schau getragen wird: Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt, Schiller hat das schon ganz richtig gesehen.

An einem Sonntagnachmittag im November, im Saloon sitzen drei Cowboys um einen Tisch herum, sie rauchen, trinken Whiskey. Die Männer pokern, ein Falschspieler fliegt auf, wirft die gezinkten Karten hin, die Hand geht zum Holster – Blei liegt in der Luft!

Da spürt er den Revolver von Jack Hunter im Rücken: Das Spiel ist aus, die Schießerei verhindert. Der Bürgermeister könnte den Spitzbuben jetzt aburteilen lassen, im Courthouse zwei Häuser die Straße runter, oder ihn aus der Stadt treiben lassen, hinaus nach Haselhorst vielleicht. Da ruft der Regisseur „Cut!“: Ein norwegisches Perkussionistentrio dreht ein Musikvideo, und Jack Hunter spielt mit, lässt sich schminken, lässt sich filmen, wie er auf der Main Street mit der Lederpeitsche knallt. Seine Frau Karin serviert den Filmleuten selbst gebackene Himbeerroulade.

Mit Dreharbeiten wie diesen, dem einmal im Monat stattfindenden Tag der offenen Tür und Hochzeiten in der kleinen roten Holzkirche finanziert sich die Stadt, das muss sein, weil sie schon allein 6000 Euro Straßenreinigungsgebühr im Jahr erwirtschaften muss. Ausgebucht ist man eigentlich immer.

Anfänge vor dem Krieg

Die Anfänge der Spandauer Westernstadt reichen bis vor den Krieg, und noch weiter ins 19. Jahrhundert zurück, verflechten Geschichte mit Legende und dokumentarisches Interesse mit deutscher Westernschwärmerei. Sowieso war der Wilde Westen ja von Anfang an zugleich Erfindung, gelebtes Leben übersetzt in Show und Staffage: Wie bei William Frederick Cody, der, nach seinen anfänglichen Heldentaten, die vor allem im Abschießen tausender Büffel bestanden, als Buffalo Bill durch die Welt tingelte, sich selbst als Attraktion vermarktend, als „Wild West Show“, mit der er 1890 auch in Berlin Station machte. Von da war es ein vergleichsweise kurzer Sprung – verkürzt noch durch das Karl-May-Fieber um die Jahrhundertwende – zum „Berliner Cowboy Club“, gegründet 1939, dann bald von den Nazis in den Untergrund gedrängt, und 1950 als „Cowboy Club Old Texas Berlin e.V.“ im amerikanischen Sektor in Neukölln wiederauferstanden.

Die glorreichen 15, der harte Kern des Vereins, der die Stadt am Leben hält, sind Leute wie Devron, geboren vor 66 Jahren als Petr in Prag, ein Betriebswirt, der sich freut, dass er hier „auch körperlich was tun kann“. Oder Liz, Altenpflegerin aus Charlottenburg, die seit 43 Jahren hier mitmacht. Oder Wyatt, 35, IT-Administrator mit Kinnbart und langem Haar und „durch und durch Nerd“ aus Spandau, oder Charlie, früher Kalle, Schichtarbeiter aus Ost-Berlin. Inzwischen ist er in Rente und aus Lichtenberg nach Spandau umgezogen, damit er näher an der Texas Town ist.

Und Jack Hunter, der Bürgermeister. Er sei in die Stadt gekommen, „wie Old Shatterhand, als Vermesser“, sagt er. „Old Shatterhand war ja Landvermesser und ist so durch den Westen gereist.“ Hunter ist Vermessungsingenieur, „und als es im Jahr 2000 hier einen Brand gab, musste eine neue Wasserleitung verlegt werden. Ich habe da vermessen, dann bin ich hier hängen geblieben.“

Wie ist er eigentlich zu seinem Namen gekommen? Jeder Bewohner der Stadt kann sich einen aussuchen, und wer will, sogar in der Kirche taufen lassen. „Ich wollte einen einsilbigen Namen, also so was wie John, Jack oder Jim. Und dann haben wir ja hier als, sach ich mal, geistiges Getränk Jack Daniels. Also Jack, und dann Hunter, wegen Jäger.“

Cowgirl. Nicht nur Männer lieben Old Texas Town.
Cowgirl. Nicht nur Männer lieben Old Texas Town.

© Kai-Uwe Heinrich

Der harte Kern der Mitglieder kann im Longhorn-Hotel, dem Courthouse oder einer Reihe Blockhäuser übernachten, man ist ja sowieso fast jedes Wochenende da. In der Woche werkelt Hunter-Keber oft allein, mit manchen der Rentner, oder denen, die gerade mit der Nachtwache dran ist. Hier ist ein Dach auszubessern, dort steht von Fort Alamo erst die Fassade, und überall muss das Laub geharkt werden, von den Bäumen, die allesamt Ben Destry gepflanzt hat, der Gründer und erste Bürgermeister der Stadt.

Als Destry, der mehr als 50 Jahre im Amt war, 2008 starb, wurde er, Jack Hunter, sein Nachfolger. Wobei ihn der Wilde Westen schon als Kind fasziniert habe, sagt Keber, wegen Bonanza, oder der Leute von der Shiloh Ranch, wegen Fernsehbildern in Schwarz-Weiß aus den 1960er und 70er Jahren. Aber dann wurde er erst mal Produktionsleitungsingenieur, in einem Stahlwerk. Keber ist Falkenseer und wohnt nur einen Steinwurf von Spandau entfernt. Ein Steinwurf allerdings, der früher über die Mauer hätte zielen müssen, die zwei Grundstücke hinter seinem stand. „Amerika“, sagt er, „das hab ich alles nachgeholt“, nach der Wende. Mehr als 20 000 Kilometer quer durch die Staaten ist Keber seitdem gefahren. Für ein Gefühl von der großen Freiheit, von Weite, von Straßen, die 150 Kilometer geradeaus gehen, „wie zwischen Lubbock und San Angelo“.

Keber ist die meiste Zeit hier nicht Cowboy, sondern Gärtner, Klempner, Zimmermann, Buchhalter auch, und Organisator. „Weisungsbefugt“ nach deutschem Vereinsrecht, er macht den Brandschutzplan und teilt die anderen zur Arbeit ein. Er werde, so sagt er, von Spandaus tatsächlichem Bürgermeister mit „Na, Kollege?“ gegrüßt.

Man will die Geschichte Nordamerikas pflegen

Keber, der sich „am Offenen“ sieben Mal umzieht, um erst im grauen Bürgermeisteranzug die Gäste zu begrüßen, dann in Uniform die Flaggenparade anzuführen, später im Frack als Baumwollbaron und wieder als Cowboy die Tanzauftritte bei der Bühnenshow zu absolvieren, tut das nicht nur aus Lust an der Verwandlung, sondern auch, „um den Leuten auf vielfältige Weise zu zeigen, wie das Leben früher, im Westen, ebent so war“. Man will die Geschichte Nordamerikas pflegen, den Pioniergeist und die „Sitten und Gebräuche der Cowboys und Indianer“. Weswegen es „original nachempfundene Uniformen“ gibt, GewehrNachbauten, ein Militärmuseum und eine „Hall of History“ mit Kriegsbeilen und Friedenspfeifen, Colts von Westernhelden und einer Replik des größten Gold-Nuggets der Welt in Vitrinen. Und eine Ecke für Karl May, mit Büste.

Nach der Neugründung im Jahr 1950, so erzählt man sich hier, trafen sich die Vereinsmitglieder erst mal an den Spreewiesen in Spandau, feierten dort um ein Lagerfeuer. Dann wurde Ben Destry Bürgermeister. Und Destry, der eigentlich Fritz Walter hieß, brachte den Verein auf Vordermann, so geht die Geschichte, schmiss erst mal von den 100 Mitgliedern die Hälfte raus, weil es Säufer und Krakeeler waren. Dann baute er an den Spreewiesen eine erste Ranch, und nach und nach die erste Version der Stadt, bis sie 1968 einem Kraftwerk weichen musste und in die Paulsternstraße umzog.

Dort lag früher vorne raus noch eine Kleingartenanlage, Kolonie Sonneneck, von Siemensianern (die eigentlich „Siemens-Indianer“ hießen), weil ja das ganze Viertel hier ursprünglich Siemens gehörte. Ben Destry, der Dreher bei Siemens war, hat das Grundstück damals für seine Stadt ergattert, nachdem es selbst die Kleingärtner nicht haben wollten. „Es wuchs ja nichts hier, war alles bloß Zuckersand und märkische Heide“, sagt Charlie.

Stricken am Großen und Ganzen

An diesem Herbsttag besteht das Lagerfeuer aus zwei Heizstrahlern in einem schmalen, hell getäfelten Blockhaus, wo die Klubmitglieder zusammensitzen. Es gibt Kaffee und Marlboro-Reklame an der Wand und Postkarten aus den USA. Und zwei aneinander geschobene Biertische, an denen die Stadtbewohner gemeinsam zu Mittag essen.

Nach dem Essen, das jede Woche jemand anderes kocht, schwärmen die glorreichen 15 wieder aus, zurück an die Arbeit: Charlie, bald 80, eigentlich Hochspannungsmonteur, macht den Elektriker hier, repariert Schalter, Lampen, und Steckdosen. Er lernt Wyatt an, damit der die Elektrik in Zukunft betreuen kann, heute ziehen sie Kabel in Fort Alamo, für den neuen Ausstellungsraum, bis zum Sommer will man mit dem Innenausbau fertig sein.

Devron Stanfort, Jack Hunters „Kopekenscheich“, der Schatzmeister des Vereins, bereitet die Monatsrechnungen für die Mitglieder vor, addiert die noch nicht bezahlten Getränke aus dem Saloon, die Beiträge für Frühstück und Mittagessen, macht die Papiere für den Steuerberater fertig. Und Liz Andrews nimmt die Kartenbestellungen für den „Offenen“ entgegen, schreibt Namensschilder, weist Tische zu.

Liz Andrews, aus Charlottenburg, ist seit 43 Jahren Bürgerin von Texas Town. 22 war sie, arbeitete als Theaterschneiderin, als sie von einem Bekannten angesprochen wurde, ob sie nicht auch Uniformen schneidern könne. „Da hab ich gefragt, wozu braucht ihr denn ’ne mexikanische Uniform oder ’ne Südstaatler-Uniform? Ja, wir sind in so ’nem Cowboy-Club, hieß et dann. Aha, hab ich gesagt, mit ’ner Feder am Hut um det Lagerfeuer hopsen …“ Dann wurde sie zur Taufe eingeladen, von jenem Bekannten mit der Uniform, September 1974 war das. Und seit 1976 ist sie jedes Wochenende hier, „nur im Urlaub nicht“.

Schwer bewaffnet. Ohne Winchester sollte man nicht aus dem Haus gehen.
Schwer bewaffnet. Ohne Winchester sollte man nicht aus dem Haus gehen.

© Kai-Uwe Heinrich

Liz, der man ansieht, dass sie hier viel an der frischen Luft ist, hat einen gut konservierten Berliner Humor. Sagt „See you later, elevator!“, und, als sie von dem geplanten Heiratsantrag am Tag der offenen Tür erfährt, „die Ärmste!“, ohne die Miene zu verziehen.

Aber warum ist sie seit 1974 eigentlich Liz, und verbringt fast all ihre Freizeit in der Stadt? „Wegen der Gemeinschaft“, sagt sie. Weil mit 22 und einem kleinen Sohn „irgendwo unterzukommen, war schwierig“. Hier konnte sie mithelfen, „ich konnte abends gesellig sein, hatte eine Möglichkeit hier zu schlafen, das war ja auch Voraussetzung, weil mit ’nem Kind wieder nach Hause, ohne Auto, das wäre nicht gegangen. Und so hat sich’s dann halt ergeben.“

Gesellig sein, da klingt die Nachkriegszeit noch nach: Wo man nicht mal einfach so in Urlaub fuhr, wo das Angebot begrenzt und man für Orte dankbar war, an denen man sich amüsieren konnte und unter Leute kam, raus aus dem Alltag, trinken, tanzen, das alles für schmales Geld.

Die Oma, die manchmal aufs Kind hätte aufpassen sollen, habe bald gestreikt, sagt Liz, und sei dann einfach selbst auch eingetreten. „Die hat gesagt, ich bin doch nicht doof und bleib zu Hause.“

Egal, wie oft man draußen auch umzieht, wie oft man hin- und hergentrifiziert wird, hinter den Palisaden bleibt die Westernstadt, es bleiben die gleichen Leute. Es bleibt das Stricken am großen Ganzen und der Stolz, Teil eines derart kolossalen Unterfangens zu sein. Es bleibt ein Zuhause, so stark, dass man „irgendwann Freundschaft und Familie aufgibt, was man vorher hatte, oder die Familie und die Freunde kommen hierher“.

Liz ist Rentnerin, „der Beruf mit der längsten Lehrzeit“, wie sie das nennt. Früher war sie Krankenpflegerin. Hauspflegerin ist sie noch immer, als Zubrot.

Old Texas Town ist eine Stadt für kleine Leute, die in der großen Stadt ihre eigene gebaut haben: mit eigenen Regeln, mit einer neuen Rolle für jeden, selbst gewählt wie die Namen. Wobei die Namen keine Westernberühmtheiten zitieren, es gibt keinen „John Wayne“, keinen „Jesse James“, es gibt niemanden, der einfach nur jemand anderen spielt. Man bleibt schon der alte.

Jeder kann hier hineininterpretieren, was er möchte

Und vielleicht eignet sich das Westernthema dafür so gut, weil es jeder irgendwie schon kennt. Western ist überall, jedes Kind erkennt auf den ersten Blick, worum es geht. Und jeder greift aus dem Fundus das, was ihm selbst am besten gefällt: die Solidarität einer Stadt, der Zusammenhalt mitten im gesetzlosen Westen, oder wie man mit Berliner Pioniergeist dem märkischen Sand Blockhaus für Blockhaus abtrotzt. Oder die Einsamkeit des Cowboys, den Schneid der Revolverhelden, die Kessheit der Salondame. Jeder kann hier hineininterpretieren, was er möchte, Freiheit und den amerikanischen Traum, die Großherzigkeit und stolze Seele Winnetous, echte Freundschaft, gestählt in der Härte des Lebens der Großstadttrapper. Und damit spielen.

Mit Truck Stop in die Hitparade

200 Leute passen in den Saloon, an den Tagen der offenen Tür ist er voll, und im Sommer tummeln sich manchmal 500 in der Stadt. Trotzdem ist es in letzter Zeit schwieriger geworden, neue Mitglieder zu finden. „Seitdem die Grenze auf ist“, sagt Liz, „gibt es so viel im Umland, Countryfeste, Countrytreffen, alles Mögliche“. Dabei hat der Mauerfall zunächst für eine ganze Generation neuer Mitglieder gesorgt. Charlie Miller zum Beispiel, der Elektriker.

Charlie ist Jahrgang 1938. Weißhaarig und glattrasiert, er war Autoschlosser, dann Hochspannungsmonteur. Er kam hierher wegen eines Songs. Die Schallplatte dazu hängt noch immer im Saloon an der Wand: Truck Stop, die Hamburger Country-Band, sang 1980 in der ZDF-Hitparade über „Old Texas Town, die Westernstadt“.

„Wir hatten grad ’nen Fernsehgig, im Frühling in Berlin, Berliner Luft kann trocken sein, wir wussten nicht wohin. So’n Typ im schnieken Anzug kam nach der Sendung rein, Wenn jemand von euch Lust hat, ich lad euch alle ein. Old Texas Town, die Westernstadt, liegt mitten in Berlin. Cowboys feiern überall, egal wohin sie ziehen.“

Und, sagt Charlie, das sei wohl wirklich so gewesen, „dass Ben Destry die Truck Stops eingeladen hat, und dass sie dann besoffen rausgegangen sind. Und eener hat sich dann hingesetzt und das Lied geschrieben.“ Er selbst hat den Song wohl im Westradio gehört und im Westfernsehen gesehen, „aber ich hab gesagt, ‚mitten in Berlin’, das ist am Alex, da bin ich groß geworden, da gibt’s keene Westernstadt, sach ich, da gibt’s nen umgebauten Alexanderplatz.“ Nach der Wende, gleich Anfang 1990, sind seine Söhne durch West-Berlin getourt. Und begeistert nach Hause zurückgekommen: „Papa, wir haben die Westernstadt gefunden!“

Großkaliber. Neben vielen Colts gibt es auch eine Kanone.
Großkaliber. Neben vielen Colts gibt es auch eine Kanone.

© Kai-Uwe Heinrich

Der alte Chef, Ben Destry, sei sehr angetan gewesen, „dass wir Ostler nun hier ankamen“, sagt Charlie, „da waren ja dann mehr Ostler als Westler.“ Er ist in Lichtenberg geboren, hat dort geheiratet und seine Frau dort beerdigt. „Also hab ich gesacht“, sagt er, „ich möchte in Lichtenberg sterben.“ Aber dann hat er ebenfalls „gesacht, zwei Mal die Woche nach Spandau“, weil er ja jede Woche mindestens zweimal hier ist, seit er Rentner ist, jedesmal hin und zurück 50 Kilometer, „das ist mir zu weit.“

Bald nach seinem Eintritt im Juni 1990 „ging’s zum ersten Mal mit zum Reenactment“ – zur Schlachtennachstellung –, „da mussten sie mir noch schnell ’ne Uniform nähen.“ Kalle aus Ost-Berlin, der da schon Charlie geworden war, fuhr also mit auf ein amerikanisches Militärgelände, eine Panzerkaserne in Westdeutschland. „Das war ganz ergreifend gewesen“, sagt Charlie, „wir haben unsere Darstellung des amerikanischen Bürgerkriegs gemacht, in Blau und Grau, also Nord- und Südstaaten. Die Soldaten haben das gesehen, und dann bei der Abschlussparade, da kamen sie mit dem Panzer vorgefahren, und hatten extra ’ne Fahne daran gehisst. Wir salutierten, sie fuhren ganz langsam vorbei und waren sehr angetan.“

Dass Charlie vom Western träumt, das ist schon seit den 50er Jahren so, als Berlin Ost und West noch offen war, „nicht eins, aber offen“. „Da sind wir rübergefahren“, sagt er, „und haben uns die Western-Schwarten gekauft, Tom Bragg, Billy Jenkins und wie die alle hießen.“ Nur Karl May, den mag er bis heute nicht, der sei ein Betrüger, ein Hochstapler. Nicht nur, dass Karl May nie in Amerika war, sich alles nur ausgedacht hat, nein, er wurde ja sogar wegen Diebstahl und Betrug steckbrieflich gesucht, und in Sachsen zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt. Charlie schwört stattdessen auf G. F. Unger, der mehr als 700 Western-Romane veröffentlicht hat, die meisten davon im Bastei-Verlag.

„Ganz einfach: An sich glauben! Nie aufgeben!“

G. F. Unger hat das, wovon all seine Bücher im Kern handeln, einmal „die Western-Botschaft“ genannt: „Ganz einfach: An sich glauben! Nie aufgeben!“

Keine schlechte Losung, auch für ein Leben, das den Zweiten Weltkrieg durchgemacht hat und dann 40 Jahre DDR. Charlie ist auf einem Auge blind, seit dem letzten Kriegstag, dem 8. Mai 1945. Da habe seine Mutter gesagt, „ich war ja Mutterns Einziger, da sacht sie, geh doch mal raus“. Er und die anderen Kinder haben dann eine Panzerfaust gefunden, und einer hat ihm die „vor die Beene geschmissen“. Aber, sagt Charlie, nie aufgeben!, „wie ich 16 war, bin ich zum Witwenball, da haben sich die Witwen um mich gerissen, die dachten, ich bin Kriegsveteran.“

"Willst du meine Frau werden?"

Dann ist endlich „Offener“ in der Stadt, wie jeden ersten Samstag im Monat zwischen März und November. Die Sonne geht hinter roten Wolken unter. Und auf einmal, ab 18.30 Uhr, strömen von überall her Cowboys durch das Palisadentor. Erstaunt schauen sich welche um, die das erste Mal hier sind, „ist ja eine ganze Stadt hier!“ An ihnen vorbei ziehen die Stammgäste im Westernmantel und Stetson, in Lederstiefeln und Trapperhut.

Die Stadt füllt sich, dann, als es dunkel wird, gehen die Lampen an den Holzfassaden an. Vor dem Sheriff-Büro steht ein Grüppchen Cowboys. Sie lehnen an der Veranda, spielen mit ihren Colts, rauchen Zigarillos. Irgendwo singt Johnny Cash.

Die männlichen Besucher deklinieren das Cowboy-Thema einmal rauf und runter, tragen Chaps – Lederbeinkleider über den Blue Jeans –, schnallen sich Messer und Trinkbecher an den Gürtel. Die Frauen tendieren in Richtung Saloonfräulein, mit Rüschen rundherum und mittendrin Dekolleté.

Ein Salutschuss geht in den dunklen Himmel

Die Klubmitglieder sind alle auf ihren Posten. Liz Andrews schmeißt den Saloon, Wyatt Anderson, im langen Mantel, macht den DJ, Charlie Miller verkauft Eintrittskarten. Er trägt keinen Colt, „wegen der Hüften“, so ein Ding ist ja auch ganz schön schwer. Devron Stanfort ist Schatzmeister, seine Frau Kimberley serviert in der Cantina Tequila.

Jack Hunter ist überall. Schaut, dass alles läuft, grüßt die Gäste, erklärt, wenn jemand etwas wissen will, dirigiert die Mitglieder mal hierhin, mal dorthin, und kommandiert – in Uniform, mit Säbel – schließlich die Parade zum Einholen der Fahne. Ein Salutschuss geht in den dunklen Himmel, dann beginnt der gesellige Teil des Abends im Saloon: Square Dance, Walzer, schließlich Partymucke. Nach der Quadrille rafft sich ein blonder Schlaks auf und fragt seine Freundin: „Willst du meine Frau werden?“ Der Saloon applaudiert, ein Tisch feiert Geburtstag, am anderen begießt man den Heiratsantrag, am Ende gibt’s eine Truppe Can-Can-Tänzerinnen in rot-weißer Ballonseide.

Und mitten im Getümmel steht ein einsamer Cowboy wortkarg an der Bar. Trinkt sein Schultheiss, rückt seinen Hut zurecht, seine Winchester hat er neben sich an die Theke gelehnt.

Pepe Egger

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