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Ost-Berliner Stimmungslagen: Die halbierte Hauptstadt

Doppelperspektive: Der Westteil Berlins war auf den Stadtplänen im Osten nur eine weiße Fläche, das hat das Lebensgefühl auch dort erheblich mitgeprägt. Auf der anderen Seite: So nahe der Osten für Westler auch war, bedeutete eine Fahrt dorthin doch eine Reise in ein vollkommen fremdes Land.

Berlin-Ost: Gegenüber der Provinz priviligiert, aber doch eingesperrt.

Es war schon ziemlich albern, wie der Nachrichtensprecher hinter dem Wort „Berlin“ eine kleine Pause machte und so das Komma andeutete, dem dann der Bandwurm „Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik“ folgte. Alle Welt sollte es jeden Tag erfahren: Berlin ist Hauptstadt. Mit Regierung, Hauptbahnhof und Zentralflughafen. Nun seid doch endlich auch mal stolz darauf, Genossen Bürger.

Was aber machten die? Witze. Fragt einer im Centrum-Warenhaus am Alex: „Gibt’s hier Gardinen?“ Antwortet die Verkäuferin: „Nein, hier gibt’s keine Teppiche. Die Abteilung, in der es keine Gardinen gibt, ist im zweiten Stock.“

Dennoch: Hauptstadt zu sein hatte was, auch wenn es nur ein Drittel Groß-Berlins betraf. Da etablierten sich von Anfang an sämtliche Ministerien in der City, den größten Teil ihrer Kader holte sich die DDR aber aus Sachsen. Und da man der Vorhut beim Aufbau des Sozialismus nicht zumuten wollte, in den einstigen Mietskasernen von Prenzlauer Berg, dem Arbeiterbezirk mit seiner Hinterhofromantik, auf Außentoiletten eine halbe Treppe tiefer die wichtigen Geschäfte zu erledigen, bauten Jugendbrigaden aus dem ganzen Land Hochhäuser oder ganze neue Viertel, während die altdeutschen Baulichkeiten im Lande ringsum verfielen. In Berlin wurden außer schönen Wohnungen Republik- und Friedrichstadtpaläste, ein Schauspielhaus, drei Dome, Luxushotels (für Devisenbringer), Kaufhäuser und diverse andere Sachen gebaut oder rekonstruiert. Hauptstadtbesucher und Dienstreisende durften sich in Exquisit-Läden einkleiden, Trabant-Ersatzteile oder vom Export abgezweigten Saftschinken zu horrenden Preisen nach Hause in die Provinz tragen. Statt sich zu freuen, meckerten sie über ihre Hauptstadt: „Die Berliner kriegen alles, für uns bleibt nischt.“

Berlin-Ost hatte eine ganze Menge zu bieten, sogar Nachtbars, einen riesigen Schornstein mit einer Silberkugel obendrauf als neues Wahrzeichen (von dem man sogar weit gen Westen gucken konnte) und den größten Park voller Tiere. Und es gab so seltsame Dinge: Gitter auf der Friedrichstraße, aus denen immer, wenn unten ein Zug entlangfuhr, heiße Luft nach oben stieg – Mädchen stellten sich da drauf, bis die Röcke flogen, Marilyn Monroe ließ grüßen. Das Dumme: Man hörte den U-Bahn-Zug, wie er angebraust kam, aber das Einsteigen war verboten. Er fuhr unter der Hauptstadt der DDR hindurch wie ein Phantom und sagte jedem: Du, da ist noch was, wenn das auch kein Stadtplan überhaupt erwähnt. Dieses „Gebilde“ West-Berlin war der Ferne Westen mitten im Fernen Osten. Und dennoch hatten wir immer mit ihm zu tun. Wenn uns Friedrich Luft am Sonntag Mittag an den Premieren „drüben“ teilhaben ließ und die „Abendschau“ das Neueste ins Wohnzimmer strahlte, Filmfestspiele und Geflitter am Kurfürstendamm, manchmal Mord und Totschlag, dann wieder Demos, deren Sinn man nicht verstand, Dispute im Schöneberger Rathaus. Oder die traurigen Botschaften von Schüssen auf Menschen, die weg wollten, nur weg aus diesem sozialistischen Vaterland.

Seit 1961 mussten wir lernen, mit der Mauer zu leben. Wir haben selten über sie gesprochen, sie war einfach da, gehörte eines Tages zu dieser Stadt, eine offene Wunde. Man durfte ihr nicht zu nahe kommen, die meisten Leute hielten sich daran. Hinter der Oderberger Straße, im Westen, stand so eine Aussichtsplattform, ein bisschen fühlte man sich im Osten angeglotzt, wie im Zoo. Die Mauer zwischen uns war eine Schande, weil sie Ohnmacht verbreitete und aus einer großen Lüge bestand. Jeder wusste: Der „antifaschistische Schutzwall“ wurde gebaut, um jeden, der wollte, am Weggehen zu hindern. So blieben wir da, richteten uns ein, machten das Beste draus. Veränderung schien fremd in diesem System. „Bleibe im Lande und wehre dich täglich“, war noch das Beste, wenn einem schon nicht der Himmel offen stand wie den Brüdern und Schwestern da drüben. Wenn sie dann mal wieder mit ihrem Käsesortiment angerückt kamen („Wir waren extra für euch im KaDeWe, das müsstet ihr mal sehen“), war ihnen die Aufmerksamkeit eines Galaempfangs sicher. Wir hatten den Tisch reich gedeckt, und sie wurden ihre Geschichten vom gerade überstandenen heroischen Widerstand gegen den DDR-Grenzpolizisten los: „Klappen Sie doch gefälligst selber die Rückbank runter, hab’ ich zu dem gesagt ...“

Das alles ist inzwischen mehr als 20 Jahre her. Auf der Suche nach dem Geist von damals ging ich in meinen alten Wohnkiez im tiefsten Prenzlauer Berg, dem Aussteigerbezirk der schrägen Vögel, Ost-Berlins Kreuzberg mit gemütlich-stinkender Ofenheizung, abblätternden Fassaden und ein paar Kneipen, wo der Bierhahn nie zur Ruhe kam. Die Pappelallee entlang, rechts in die Raumerstraße, zum Helmholtzplatz. Eines Tages bauten sie ein Gerüst vors Haus. Die „dringende Renovierung“ und der dunkelgraue (!) Anstrich dauerten mehr als ein Jahr. In der Zeit beklauten Diebe die Keller, sägten Löwenköpfe von den Treppengeländern und demontierten Messingklingeln. Heute drohen die Balkone nicht mehr abzustürzen, die Läden, einst mit Rollos verbarrikadiert, florieren als Cafés, Kneipen und Geschäfte. Statt der alten Leute von früher haben Kinder den „Helmi“ erobert, das öffentliche Telefon an der Hauswand, das so pfiffig manipuliert war, dass wir immer kostenlos mit dem Westen sprechen konnten, ist längst weg. Und auf dem Freireligiösen Friedhofspark an der Pappelallee lagern Liebespärchen zwischen spielenden Kindern. Auf einem Grabstein steht Kartoffelsalat zum Picknick. Auch das ist neu. Lothar Heinke


Berlin-West: Gefühl der Unsicherheit und Bedrohung beim Besuch im Osten

Damals, in jenen Jahren vor der Wende, war Ost-Berlin weiter weg als Venedig oder New York. Der Bahnhof Friedrichstraße lag zwar nur drei S-Bahnstationen von meiner damaligen Wohnung entfernt. Aber er lag halt in einem anderen Weltreich. Das fühlte ich mehr, als dass ich es dachte. Es hat Jahre gedauert, bis ich mir eingestand, dass auch wir Westler Opfer von Propaganda waren. Das „Reich des Bösen“, wie Ronald Reagan es einst nannte, hat mir immer Angst gemacht, die Vorstellung, einen Ausflug dorthin zu machen und dann festgehalten zu werden, womöglich nicht zurück zu können auf die andere, die freie Seite der Mauer, hat in mir so etwas wie Klaustrophobie ausgelöst. Die Zahl meiner Besuche in Ost–Berlin hielt sich daher in engen Grenzen. Ich kannte die Welt vor dem Mauerbau nur aus Erzählungen und Filmen, nicht aus eigener Erfahrung. Aufgewachsen war ich in Westdeutschland.

Ost-Berlin war der einzige Ort, an dem es mir schwer fiel, Geld loszuwerden. Es gab ja den Zwangsumtausch von 25 DM neben der Visagebühr von 5 DM. Was tun mit dem Geld? Es gab fast keine Restaurants, wenn überhaupt, aß ich in Devisenrestaurants. Bei den anderen musste man anstehen, sich unfreundlich behandeln lassen und wurde dann auch nur kleine Beträge los für Speisen, die mir zu fett und zu zerkocht vorkamen. Die „Sättigungsbeilage“ fand ich damals noch nicht lustig.

Buchläden boten Möglichkeiten zum Geldausgeben, aber wollte ich wirklich die gesammelten Werke von Marx und Engels besitzen? Ganz bestimmt nicht. Man konnte das Geld ja auch nicht einfach Fremden geben, wer weiß was da passiert wäre. Einmal entdeckte ich voller Erleichterung eine Sammelbox am Dom.

Mit Ost-Berlin verband ich den Geruch nach Desinfektionsmitteln und das Fehlen von allem, was Spaß macht im Leben: Verreisen, wohin man will, einkaufen, was man mag, lesen, was einen interessiert, Musik hören, die einem gefällt, sagen können, was man denkt. Wenn ich heute durch die Friedrichstraße gehe und gegen schwere Attacken von Nasch- und Shoppinglust ankämpfe, denke ich manchmal zurück an jene Jahre und kann gar nicht glauben, dass ich da schon auf der Welt war.

Anfang 1988 wollte der Freund plötzlich ein Wochenende in Ost-Berlin verbringen. „Auf keinen Fall“, sagte ich.

Einige Wochen später stiegen wir am Flughafen Tegel in eine Limousine des kurz zuvor eröffneten Grand Hotels in der Friedrichstraße, des heutigen Westin Grand, Ecke Unter den Linden. Der Fahrer hielt mir ein Paket Tempotücher entgegen wie eine Trophäe, ein Statussymbol westlichen Lebensstils. Dass er so stolz darauf war, überraschte und beschämte mich gleichermaßen.

Vor dem Hotel standen Passanten und guckten, und es war mir etwas peinlich, als Gast in das teure Devisenhotel hineinzugehen. Immer wieder begegnete mir dort an diesem Wochenende der Stolz auf westlichen Lebensstil. In jenen Jahren war ich vertraut mit den minimalistischen Frühstücksritualen in gehobenen mediterranen Hotels. Als ich das Frühstücksbüfett im Grand Hotel sah, kam ich mir vor wie in einer Bolle-Filiale. Es gab unglaublich viele Sorten Wurst und Käse, eben wie in einem Supermarktregal, und die Kellnerinnen waren furchtbar stolz auf die Fülle. Angesichts der für mich überraschend netten Menschen kam wieder dieses irritierende Gefühl, in dem sich der Angst vor dem fremden Land etwas wie Scham beimischte. Damals hielt ich den Lebensstil im Westen in jeder Hinsicht für überlegen.

Draußen roch es nach Lysol, und über die verregnete Friedrichstraße fuhren ab und zu ein paar Trabis und Wartburgs. Nie habe ich so viele Parkplätze gesehen. Ost-Berlin kam mir leer und grau vor, das Fehlen von Geschäften fand ich deprimierend.

Ich fühlte mich fremd wie in einem unbekannten Land. Hätte ich ahnen sollen, dass einige der nettesten Kollegen, mit denen ich bald über viele Jahre gemeinsam Zeitung machen sollte, auf dieser Seite der Mauer lebten? Dass ich Menschen einfach hätte besuchen können, die mir später lieb und vertraut werden würden?

Dass sich die Welt so grundlegend, so drastisch ändern könnte, lag schlicht völlig außerhalb meines Vorstellungsvermögens. Mir auszudenken, dass ich in einigen Jahren an die DDR nicht mal mehr denken würde, wenn ich in einem in der Friedrichstraße gekauften Cocktailkleid zu einer glamourösen Gala mit Hollywoodstars ins Konzerthaus am Gendarmenmarkt gehen würde? Dazu war ich damals schlicht nicht in der Lage.

An jenem Wochenende im Grand Hotel dachte ich nur, dass es komplett verrückt sei, freiwillig in diesem unheimlichen Land unterwegs zu sein, wo die Leute eingesperrt waren und mit Gewehren daran gehindert wurden zu gehen, wohin sie wollten. Es verblüffte mich zwar, wie herzlich das Personal im Grand Hotel war, aber ich traute dem Frieden nicht. Aber stärker als die menschlichen Eindrücke, die ich an dem Wochenende sammelte, waren die Erfahrungen bei den Grenzübertritten im Tränenpalast am Bahnhof Friedrichstraße, dass man den Grenzern so ausgeliefert war oder das jedenfalls so empfand.

Einmal im Leben sollte ich Dresden sehen, beschied der Freund im Herbst 1989. Wegen des Visums quartierten wir uns Anfang November auf dem Rückweg für eine Nacht im Palasthotel ein. Ich schenkte dem Pagen, der mir mit dem Gepäck half, einen Beutel Apfelsinen. Und obwohl ich noch am Nachmittag des 9. November 1989 mir nie hätte vorstellen können, dass die Mauer einmal fallen würde, dachte ich in diesem Moment spontan: Vielleicht wird er sich so was bald selber kaufen können.

Noch vier Tage, bis sich erst die Stadt, dann das Land und dann die Welt verändern würde. Elisabeth Binder

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