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Berlin: Otto „Scotty“ Golumbeck (Geb. 1950)

„Wo ist denn hier die Barrikade?“

Trier ist eine hübsche saubere Stadt. Schon ein achtlos auf den Bürgersteig geschnippter Zigarettenstummel verdirbt das ganze Bild. Und ein von einem jungen Mann mit langen Haaren auf den Bürgersteig geschnippter Zigarettenstummel verdirbt das Bild noch sehr viel mehr, in den Augen der Trierer Bürger.

Der junge Mann mit den langen Haaren und einer soliden Tresorbauerausbildung läuft 1973 rauchend die engen Trierer Straßen auf und ab und denkt: „Indien“. Stellt sich die weiten Strände, das Glitzern der Sonne im Meer und in den Augen der Mädchen vor. Er verstaut die selbst gefertigten Gürtel. Da sagt sein alter Freund Juppy: „Mann Scotty, pack die Gürtel wieder aus, komm mit mir nach Berlin.“

Berlin. Berge von Kippen liegen entlang der Bordsteine. Auffällig sind junge Männer mit kurzen Haaren. Jede Nacht spielt in jedem zweiten Kreuzberger Hinterhof eine Band, malt ein Künstler seinen Körper an und zuckt ekstatisch zum Klang der Trommel, liest ein finsterer Student sein politisches Manifest vom zerknitterten Zettel ab. Berlin, ummauert und frei. Keine Wehrpflicht. Aussteiger, Schwärmer und Spinner. Ein paar Realisten. Also Berlin. Indien vielleicht später.

Scotty und Juppy und noch ein paar andere haben eine Vision: Wollen in der Art einer Kommune zusammen wohnen, arbeiten und sich der Kunst widmen. Die Vision aber soll nicht als bloße Utopie in nächtlich hoch gestimmtem Gerede verenden. Das verneinende U vor dem Topos muss verschwinden. Sie brauchen einen Ort.

Der Tipp kommt von den Musikern von „Tangerine Dream“, die auf dem verwahrlosten Gelände der ehemaligen Ufa-Filmstudios in der Tempelhofer Viktoriastraße proben. Scotty und Juppy zweifeln: aus Kreuzberg nach Tempelhof? Sie fahren trotzdem mit ihren Rädern los und zwängen sich durch Löcher im Zaun, laufen über zugewachsene Wege, an flachen, zerbröckelnden Häusern entlang. Treten in den alten Kinosaal, es ist stockduster. Entzünden ein Feuerzeug. Erkennen in dem fahlen Licht: Das ist der ideale Ort. Dieses Gelände müssen wir haben.

Nach einigem Hin und Her mit Politikern, mit der Post, der der Komplex gehört, nach einem Filmbeitrag im SFB, wird die Ufa-Fabrik am 9. Juni 1979 „friedlich in Besitz genommen“. Nie ging es um eine illegale Besetzung. Immer darum, einen Vertrag abzuschließen, regelmäßig Miete zu zahlen. „Das ist ja gar keine richtige Besetzung“, sagen einige Politiker beinahe vorwurfsvoll. „Wo ist denn hier die Barrikade?“

Über dem Eingangstor hängt ein Transparent: „Herzlich willkommen!“

Was folgt, ist Aufbauarbeit: Aufräumen, die Gebäude in einen bewohnbaren Zustand versetzen, die Heizungen reparieren. All das kostet Geld. Die Kommune nimmt Renovierungsaufträge an, tingelt mit dem Zirkus auf Berliner Straßenfesten, in Jugendfreizeitheimen in Nürnberg, auf Schulkongressen in Hannover. Scotty tritt als Clown Soso auf, in einer schlaffen, mit Blüten benähten Hose, die von einem einzigen Hosenträger überm gepunkteten T-Shirt gehalten wird. Scotty hat Lampenfieber: Komisch sein vor fremden Leuten, kann ich das, fragt er sich unsicher. Er zögert noch mit ernstem ängstlichen Gesicht hinter der Bühne, da nimmt ihn jemand und schiebt ihn heftig nach vorn, Scotty, oder schon Soso, fliegt ins Rampenlicht, die Arme zum Flug ausgebreitet, das Publikum krümmt sich vor Lachen.

In Tempelhof entsteht nach und nach eine Stadt in der Stadt, mit Zirkus, Varieté- und Theatersälen, einer Freilichtbühne, einer Bäckerei, der ersten anerkannten „Freien Schule“ Berlins, einem Kinderbauernhof, einer Sambaschule, einem Blockheizkraftwerk, einer der größten Solaranlagen der Stadt. Auf fast 19 000 Quadratmetern leben 40 und arbeiten 200 Menschen.

Scotty organisiert 18 Jahre lang die Veranstaltungen für die Ufa-Fabrik: Konzerte, Kino, Kabarett, Theater, die Mir-Caravane, ein Künstlerumzug von Moskau über Berlin nach Paris, 200 Artisten aus ganz Europa, Ost wie West. Wolfgang Neuss, der eigentlich nicht mehr auftritt, kommt. Annie Sprinkle, eine ehemalige Pornodarstellerin aus den USA, gastiert. In den Pausen spreizt sie ihre Beine. Mit Taschenlampe und Spekulum schauen die Männer verlegen bis zu ihrem Gebärmutterhals.

Scotty nimmt sich auch Zeit, reist wochenlang durch Brasilien zu befreundeten Künstlern. Indien ist nicht vergessen. Später, denkt er immer wieder. Dann wird er krank. Sitzt oft auf dem kleinen Balkon seiner Wohnung, schaut hinauf in den Himmel, hinab auf die blühenden Malven und den Mohn vor seinem Haus, auf die vielen Menschen, die tagtäglich herbeiströmen.

Ein Schauspieler will „Don Quijote“ inszenieren, sucht einen Sancho Pansa. „Ich kenne den besten Sancho Pansa, den du kriegen kannst“, sagt Juppy zu dem Schauspieler und stellt ihm Scotty vor. Der Schauspieler ist sofort überzeugt. Scotty lernt seinen Text; es fällt ihm schon nicht mehr leicht. Er wird ein großartiger Knappe neben dem Ritter von der traurigen Gestalt: ein Herumtreiber und Vagabund, ein Schelm, ein Zauberer, ein treuer Freund.

In Indien ist er nie gewesen. Tatjana Wulfert

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