zum Hauptinhalt
Menschen mit Essstörungen bekommen ihr Essverhalten nicht in den Griff.

© imago/CHROMORANGE

Overeaters Anonymous: Wieder auf den Hunger hören

Von Magersucht zu Fress-Anfällen: Die „Overeaters Anonymous“ wollen Menschen dabei helfen, sich vom zwanghaften Essen zu befreien.

Elf Frauen und zwei Männer sitzen um einen Tisch, darauf stehen Wasser und ungesüßter Tee. Zu Beginn stellt man sich reihum vor. Eine nette, unauffällige Gesprächsrunde. Wenn dieses winzige Zögern nach dem Nennen des Vornamens nicht wäre, das wie ein mitgedachtes Komma wirkt. Auf das Komma folgt das Attribut, das hier alle eint: Esssüchtig. Susanna (alle Namen geändert), esssüchtig, Robert, esssüchtig, Carla, esssüchtig. Später werden einige in kurzen, sehr persönlichen Statements berichten, wie dieses Attribut ihr Leben bestimmt. Wie an einem Abend in der vergangenen Woche wieder der Druck zum Essen, zum Knabbern oder zum Hinunterschlingen schier übermächtig wurde. Sie werden schonungslos alles auftischen, was lange heimlich gelebt wurde.
„In Bezug auf Nahrungsmittel sind wir alle gaga“, hatte Susanna schon vorher gewarnt. Das eint die Gruppe, so verschieden ihre Mitglieder äußerlich wirken, von sehr schlank über mollig bis deutlich übergewichtig. Noch eines verbindet sie: Alle haben diverse Diäten ausprobiert, fast alle haben Therapien hinter sich, stationär, ambulant, allein, in Gruppen, einige stecken noch mitten drin. Die medizinischen Diagnosen für ihre Probleme können ganz verschieden lauten: Magersucht (Anorexie), Ess-Brech-Sucht (Bulimie) und Binge-Eating, also regelmäßige Heißhunger-Attacken mit „Fress-Anfällen“. Und mit den Folgen Übergewicht und Adipositas.
Susanna*, die heute, mit Mitte 30, sportlich wirkt, war mit 16 deutlich zu dick und wollte immer schlank sein. Der Zusammenhang mit ihrem Essverhalten wurde im Rahmen einer Psychotherapie deutlich, die sie wegen ihrer Depression machte. Sie versuchte vergeblich weniger zu essen, erkannte langsam das Ausmaß ihrer Erkrankung und ging in eine Fachklinik für Essstörungen. Nur half alles nichts, denn trotzdem hat sie viele Jahre lang zu viel gegessen. „Eigentlich pausenlos“, wie sie heute sagt. „Erst später habe ich realisiert: Ich bekomme das nicht in den Griff.“

Das Konzept ist an die weit bekannteren "Anonymen Alkoholiker" angelehnt

Eine Amerikanerin mit dem Vornamen Rozanne, der es ähnlich ging, gründete im Jahr 1960 die „Overeaters Anonymous“ (OA). In Deutschland fasste die Selbsthilfebewegung mit Meetings in verschiedenen Städten seit 1986 Fuß. In diesem Jahr kann sie also 30. Geburtstag feiern. Inzwischen gibt es hierzulande über 160 Gruppen, die sich regelmäßig treffen. Das Konzept ist an das der weit bekannteren „Anonymen Alkoholiker“ (AA) angelehnt. Am Beginn steht also die „Kapitulation“: Das Eingeständnis, nicht mit dem Problem des maßlosen Essens fertig zu werden. Es als übermächtigen Zwang zu empfinden. Hilfe zu suchen gegen das Kreisen der Gedanken um diesen einen Punkt. Einen Plan zu brauchen.
Bei den Anonymen Alkoholikern gehört zu diesem Plan die strikte Abstinenz. Dass sich diese Forderung nicht auf das Essen übertragen lässt, versteht sich von selbst. Die OA empfehlen aber einen klaren Rahmen dafür, damit auch die Nahrungsaufnahme im Rahmen bleibt und sich wieder ein Gefühl für Hunger und Sättigung einstellen kann. Damit man lernt, Wut und Angst von Hunger zu unterscheiden. Für Susanna* bedeutet das: Drei Mahlzeiten und nichts dazwischen. Lebensmittel, für die sie eine besondere Schwäche hat, lässt sie lieber weg. Sie weiß zudem, dass es für sie sehr wichtig ist, auch genug Bewegung zu bekommen.
Die OA wollen Ärzte und Ernährungsexperten nicht ersetzen. Sie sprechen auch keine Empfehlung für die Allgemeinheit aus, sondern ziehen für sich persönlich eine Konsequenz aus der Einsicht, unter einer besonderen Art von Sucht zu leiden. Doch kann man von etwas prinzipiell Überlebensnotwendigem im krankhaften Sinn abhängig sein? Aus den Reihen der American Psychiatric Association kam Ende der 90er Jahre bei aller Anerkennung der Gruppenarbeit auch Kritik an dem Sucht-Modell, mit dem die OA sich an den AA orientieren. Zudem wurde die fehlende Differenzierung zwischen verschiedenen Essstörungen moniert.

Menschen mit Essstörungen bekommen ihr Essverhalten nicht in den Griff.
Menschen mit Essstörungen bekommen ihr Essverhalten nicht in den Griff.

© imago/CHROMORANGE

Für langfristigen Erfolg muss man bei der Stange bleiben

Es gibt noch einen anderen Punkt, der beim Besuch einer Gruppensitzung zunächst befremden könnte. Er wurde aus den „Zwölf Schritten“ der Anonymen Alkoholiker entnommen: „Wir kamen zu dem Glauben, dass eine Kraft, größer als wir selbst, uns unsere geistige Gesundheit wiedergeben kann“, so heißt es im zweiten der „Schritte“, die bei den Treffen verlesen werden. Im weiteren Verlauf wird diese höhere Macht sogar als „Gott“ bezeichnet. „Hätte ich mich darüber vorher informiert, wäre ich womöglich gar nicht hingegangen“, sagt Susanna, die von sich selbst sagt, dass sie früher mit Glauben „nicht viel am Hut“ gehabt hätte. Das müsse man aber auch nicht: Sie und viele andere stellen sich die „höhere Macht“ inzwischen als Kraft vor, die man im gesunden Anteil seines Ichs finden kann – und im stützenden Einfluss der Gruppe. Zu den Empfehlungen der OA gehört ausdrücklich die Hilfe für andere, zum Beispiel kann man als „Sponsor“ eine Art Patenschaft übernehmen.

Gerade die Unterschiedlichkeit der Diagnosen kann ein Gewinn für die Gruppe sein

Eine solche Gemeinschaft könne für die Heilung wichtig werden, finden inzwischen auch medizinisch-psychotherapeutische Einrichtungen wie die Adula-Klinik in Oberstdorf. Dort werden Patienten mit Magersucht, Bulimie, Binge-Eating und krankhaftem Übergewicht mit anerkannten Psychotherapieverfahren behandelt. Zusätzlich zur medizinischen und psychotherapeutischen Behandlung gibt es allerdings auch die Empfehlung, an Selbsthilfegruppen teilzunehmen, die sich an dem Zwölf-Schritte-Programm der OA orientieren. Dagmar Giese, in der Klinik als Spezialgruppen-Therapeutin tätig, empfindet das als wichtige Ergänzung der professionellen Therapie. „Die Gruppen bieten einen Raum, in dem man sich traut, die eigene Scham zu überwinden und auch Dinge auszusprechen, mit denen man kein souveränes Bild bietet.“ Dass sich hier Menschen mit recht unterschiedlichen Diagnosen treffen, hält sie für einen Gewinn. „Jede Patientengruppe neigt zu bestimmten Beschränkungen, deshalb kommt die Kraft der Gruppe hier besonders gut zum Tragen.“
Noch fehlen allerdings gute Studien, in denen das Konzept der OA streng wissenschaftlich evaluiert würde. Immerhin gab es in den USA vor einigen Jahren eine Gallup-Befragung unter OA-Mitgliedern, die seit durchschnittlich 4,3 Jahren dabei waren: Fast alle gaben zu Protokoll, dass ihre emotionalen und geistigen Probleme sich durch die Teilnahme gebessert hätten, die Mehrheit konstatierte eine deutliche Verbesserung des Essverhaltens. 46 Prozent der Befragten haben demnach ein gesundes Gewicht erreicht, der durchschnittliche Gewichtsverlust der Esssüchtigen betrug 20 Kilo. Über den langfristigen Erfolg sagt das selbstverständlich noch nichts aus. Damit der sich einstellt, muss man bei der Stange bleiben. „Das Programm ist einfach, aber nicht leicht“, urteilt eine, die es wissen muss.

Mehr Informationen zu Overeaters Anonymous und Meetings in Berlin unter www.overeatersanonymous.de. Für Betroffene sind alle Meetings offen. Für alle Interessierten, für Angehörige, Ärzte, Therapeuten oder Ernährungsberater gibt es ein offenes Meetings jeden 1. Mittwoch im Monat um 20 Uhr in der der Kontakt- und Informationsstelle für Selbsthilfe im Nachbarschaftsheim Fehrbelliner Straße 92.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false