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Zu alternative Liste. Der Vorläufer der Berliner Grünen setzte sich für die Rechte von Schwulen ein – und vernachlässigte dabei den Kinderschutz.

© picture alliance / zb

Pädophilie-Affäre bei den Grünen: „Ich bin wie paralysiert geflüchtet“

Thomas Birk traf bei den Berliner Grünen auch auf pädophile Aktivisten – angezeigt hat er sie nie. Ein Gespräch über falsche Solidarität, unschuldige Opfer und verdrängte Vergangenheit.

Von Sabine Beikler

Herr Birk, Sie sind Mitglied der Kommission Aufarbeitung zu Pädophilie und sexualisierter Gewalt gegen Kinder der Berliner Grünen. Was ist Ihre Erkenntnis nach eineinhalb Jahren Arbeit?
Wir wissen, dass wir Täter hatten – wie schon im Walter-Bericht erwähnt. Aber wir haben noch keine abschließende Erkenntnis darüber, wie viele es sind und in welchem Umfang sie Missbrauch begangen haben. Wir sind im Prozess des Aufarbeitens, der noch nicht zu Ende ist.

Sie sind seit 1993 im Schwulenbereich der Berliner Grünen aktiv gewesen. Das ist der Ort in der Partei gewesen, in dem die pädophilen Täter ein Refugium fanden. Warum haben Sie das geduldet?
Das war für mich ein sehr starkes Motiv, an der Aufarbeitung mitzuwirken. Es bewegt mich aufrichtig. Ich bin in den Schwulenbereich reingekommen, ohne ein Vorstrafenregister von Fred Karst zu kennen.

Karst trat 1983 in die Alternative Liste ein und kam einem Parteiausschlussverfahren 1995 durch Austritt zuvor. Er war in der JVA Tegel wegen sexuellen Missbrauchs inhaftiert.
Ja. Karst gründete die Gruppe „Jung und Alt“, die laut eigenen Angaben Zelten, Butterfahrten und Beratungen organisierte. Mir war damals irgendwie klar, dass dieser Mann pädosexuell ist. Aber wir haben im Schwulenbereich erst viel zu spät wahrgenommen, was es mit Karsts Gruppe auf sich hatte.

Karst gründete erst 1992 die Untergruppe „Jung und Alt“, eine laut Bericht schlecht getarnte Pädo-Gesprächsgruppe. Was passierte dort, hatten Sie dorthin Kontakte?
Ich wurde von Karst zu ihm nach Hause eingeladen, um über das Thema Sexualität von Kindern zu debattieren. Er war in der Schwulengruppe der einzig Erkennbare von der Gruppe „Jung und Alt“. Er vertrat die Position der einvernehmlichen Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern offensiv. Bis zu dem Zeitpunkt der Einladung war das für mich eine abstrakte Debatte. Aber dort sah ich, dass die Wände mit Bildern von nackten Jungen beklebt waren. Er war ja auch Pfadfinderleiter. Bei diesem einen Treffen war auch eine betrunkene Mutter anwesend, die sich darüber beklagte, dass ihr Sohn, der Kontakt mit Karst hatte, freiwillig in ein Heim gegangen sei. Ein Bild dieses Jungen hing an der Wand. Und in diesem Augenblick war mir völlig klar, was dort ablief.

Thomas Birk, 53, ist Mitglied der Kommission Aufarbeitung der Grünen. Der Verwaltungsspezialist und Vize-Vorsitzende des Fachausschusses ist queerpolitischer Sprecher seiner Fraktion.
Thomas Birk, 53, ist Mitglied der Kommission Aufarbeitung der Grünen. Der Verwaltungsspezialist und Vize-Vorsitzende des Fachausschusses ist queerpolitischer Sprecher seiner Fraktion.

© promo

Warum haben Sie nicht reagiert?
Noch in den achtziger Jahren gab es zwischen Schwulen und den Pädos eine Solidarität. So waren Teile der Schwulenbewegung damals drauf. Ich bin wie paralysiert aus dieser Wohnung geflüchtet. Ich habe den Mann aber weder angezeigt noch habe ich mit Verantwortlichen gesprochen, sondern nur mit engen Freunden darüber geredet. Karst wurde kurz danach verhaftet.

Haben Sie keine Schuldgefühle?
Ich empfinde mein Verhalten damals als Verrat an den Kindern, deren Bilder ich an den Wänden sah. Das habe ich 20 Jahre lang verdrängt. Als 2010 die Debatte um Missbrauch am Canisius-Kolleg aufkam, waren die Erinnerungen wieder da. Ich habe meinen Auftrag darin gesehen, Aufklärungsarbeit zu betreiben.

Man diskutierte über strukturelle Gewalt. Warum wurde in Grünen-Kreisen nie davon ausgegangen, dass Jungen möglicherweise Opfer sexuellen Missbrauchs waren?
Es gab damals die aus heutiger Sicht abstruse Unterscheidung zwischen der sogenannten einvernehmlichen Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern und körperlicher Nötigung. Hinzu kam die Debatte um den Paragrafen 175 im Strafgesetzbuch, der schwule Männer diskriminierte. Die berechtigte Kritik an diesem Paragrafen wurde in der Debatte mit der pädosexuellen Forderung nach Streichung der Paragrafen 174 und 176 in einen Topf geworfen.

Erst 1994 wurde der „Schwulenparagraf“, der homosexuelle Kontakte unter Strafe stellt, ersatzlos gestrichen.
Bis dahin, vor allem in den achtziger Jahren, wurden wir Schwule von den Pädosexuellen beeinflusst, die sagten, sie würden genauso diskriminiert und verfolgt wie wir. Und ihre absurde These, es könne so etwas wie einvernehmliche Sexualität zwischen Kindern und Erwachsenen geben, wurde von uns nicht kritisch hinterfragt .

Sie haben ein eigenes Archiv und selbst recherchiert. Welches Feedback hatten Sie bekommen? Offenheit oder Verdrängung?
Das Feedback bei den jüngeren grünen Queer-Gruppen war Entsetzen und Unverständnis. Bei den Älteren mussten wir Schicht um Schicht die Erinnerung wieder wachrufen. Das ist ein verdrängtes Kapitel unserer Vergangenheit.

Sie erwähnten, dass hochgerechnet bis zu 1000 Opfer sexuellen Missbrauchs nicht auszuschließen seien. Warum haben Sie sich von dieser Zahl distanziert?
Diese Zahl wurde von mir im März am Rande einer Veranstaltung genannt und war rein spekulativ. Die Schätzung bezog sich auch nicht auf die Grünen, sondern auch die damalige alternative und pädophile Szene in Berlin insgesamt. Wir hoffen, dass sich Betroffene bei uns melden und gehen momentan einer konkreten Spur nach.

Thomas Birk, 53, ist Mitglied der Kommission Aufarbeitung der Grünen. Der Verwaltungsspezialist und Vize-Vorsitzende des Fachausschusses ist queerpolitischer Sprecher seiner Fraktion.

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