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Berlin: Panorama des Normalen

Vor 60 Jahren dokumentierte Fotograf Fritz Tiedemann die einstige Friedrichshainer Fruchtstraße Haus für Haus. Die Aufnahmen zeigen eine versunkene Welt.

Der Mann im dunklen Mantel darf nicht fehlen. Alle paar Meter steht er da, auf dem Kopf eine Schiebermütze, die Hände tief in die Taschen vergraben. Es ist noch kalt in Ost-Berlin an diesem 27. März 1952. Mal blickt der Mann nach oben, mal zur Seite, meist aber frontal und freundlich in die Kamera.

Die Kamera gehört dem Fotografen Fritz Tiedemann – und der Mann im Mantel ist sein Assistent, neben ihm steht eine vier Meter hohe Messlatte. An jenem Donnerstagmorgen sollen sie für die Bauverwaltung die Friedrichshainer Fruchtstraße dokumentieren, zwischen Ostbahnhof und Stalinallee. 60 Jahre später heißt die Stalinallee längst KarlMarx-Allee, und die Fruchtstraße ist zur Straße der Pariser Kommune geworden. Auch von den Häusern, die auf den Fotos zu sehen sind, klassizistisch, kriegsversehrt, haben nicht viele überlebt.

Das Verlagsgebäude des „Neuen Deutschland“ entstand 20 Jahre nach den Bildern, als neunstöckiger monolithischer Stahlbetonriegel, und war einer der Gründe, warum die alte Bebauung weichen musste. Nun schließt sich der Kreis: Im Foyer des Hauses zeigt eine Ausstellung Tiedemanns Fotos. 650 Meter Fruchtstraße sind zu 20 Metern Fotopanorama geschrumpft, 85 Zentimeter in der Höhe – trotzdem lässt sich fast jedes Detail erkennen. Die „Groß-Destillation zum Stern“ wirbt für „Biere in Siphons und Kannen“, am Konsum prangt ein Schild mit der Aufschrift „Das deutsche Volk will keinen Bruderkrieg“, und im Hintergrund einer Baustelle ist im Dunst eine Stalin-Statue zu erahnen.

Tiedemann fotografierte mit einer Plattenkamera, die Bilder sind gestochen scharf. Die Negative hatten ein Format von 9 mal 12 Zentimetern, das Vielfache eines Kleinbildnegativs. „Dadurch haben die Bilder eine viel höhere Auflösung“, sagt Arwed Messmer, „man kann so die Textur der Fassaden erkennen.“

Messmer, Jahrgang 1964, ist Fotograf und hat die Aufnahmen entdeckt. Für ein Buchprojekt stöberte er vor sechs Jahren in der Architektursammlung der Berlinischen Galerie und stieß auf die Fotos der Fruchtstraße. Die 32 Negative setzte er digital zusammen. Wo ein ein Foto endet und das nächste beginnt, ist nicht mehr zu erkennen. Teilweise musste Messmer schummeln: Ein Fahrzeug verlängerte er, einen Steinhaufen entnahm er einem anderen Foto und setzte ihn an eine Stelle, an der ein Teil des Gehsteigs fehlte. „So kann man viel besser im Bild versinken“, sagt er. „Wenn man es nicht weiß, stellt man es nicht infrage. Die Fotos kommen wie ein Dokument daher, sind es aber streng genommen nicht.“

Als Messmer die Fotos 2008 in der Berlinischen Galerie zeigte, war noch nicht klar, von wem sie stammten. Auch der „Spiegel“ berichtete. Im Wartezimmer eines Zahnarzts stieß eine Frau auf diesen Artikel: die Tochter Fritz Tiedemanns. Sie erkannte die Bilder und meldete sich bei der Berlinischen Galerie.

So kann in der aktuellen Ausstellung und im dazugehörigen Buch der Mann gewürdigt werden, der 1952 hinter der Kamera stand und danach nicht mehr lange in der DDR lebte. Dass er für Ost wie für West arbeitete, missfiel dem Regime, zudem plante er seine Flucht. Man verhaftete Tiedemann, verurteilte ihn zu zwei Jahren Gefängnis. Nach seiner vorzeitigen Entlassung gelang ihm doch noch die Flucht in die Bundesrepublik, wo er sich in Münster niederließ – und 2001 starb.

Den Essay für das Fruchtstraßen-Buch schrieb die Autorin Annett Gröschner im Künstlerhaus Schloss Wiepersdorf. Als Schriftstellerin bekam sie dort ein Maleratelier, die Ausstellung zeigt, warum: An die Wand hängte sie Kopien der Panoramafotos und klebte darunter Notizzettel mit Fragen, die sie sich angesichts mancher Details auf den Bildern stellte. Außerdem Filmstills aus der „Legende von Paul und Paula“, auf denen die Sprengung von Gebäuden der Fruchtstraße zu sehen ist. Dazu klebte sie Material, das aus alten Adressbüchern und Bauakten stammte: Listen der Bewohner und ihrer Berufe. Zeitungen vom 27. März 1952 verrieten ihr, wie das Wetter war und was die Stadt beschäftigte. Aus all dem webte sie einen Text, der den Leser hineinzieht in einen ganz normalen Tag in einer ganz normalen Berliner Straße.

Von den 22 Häusern der Fruchtstraße, die auf Tiedemanns Fotos zu sehen sind, steht heute nur noch ein Drittel. Stattdessen bestimmen Hochhäuser mit 20 Stockwerken das Straßenbild. Vor dem Haus mit der einstigen Nummer 59 bleibt Arwed Messmer stehen. Es ist heute die Straße der Pariser Kommune 27 – und auch sonst nicht wiederzuerkennen: Die kunstvollen Jugendstilornamente und die Fenstergiebel sind verschwunden, die Fassade wurde glattgeputzt und blassgelb gestrichen. Aber das Haus steht noch, die meisten anderen wurden abgerissen.

„Man wollte mit der Flächensanierung die Bevölkerung austauschen“, sagt Messmer. „Schon in den zwanziger Jahren gab es hier viel Prostitution und üble Spelunken.“ Die Nähe zum Ostbahnhof hatte dazu geführt, dass viele, die mittellos nach Berlin kamen, gleich im sogenannten Stralauer Viertel blieben.

Dabei hatte die Fruchtstraße ihren Namen im Jahr 1820 nicht zufällig bekommen: Die Gegend war damals, wie Annett Gröschner schreibt, „viele Jahrzehnte der Garten Berlins gewesen, bekannt für seine Erfolge in der Hyazinthenzucht.“ Schwer vorstellbar ist das heute – schwerer noch als ein Tag im März 1952.

— „Berlin, Fruchtstraße am 27. März 1952“: Ausstellung bis 16. Dezember. im Foyer des ND-Hauses, Franz-Mehring-Platz 1. Das Buch (Hatje Cantz Verlag) kostet 38 €.

Kaspar Heinrich

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