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Viel zu tun. Mehr als 16 000 Altenpfleger arbeiten in Berlin, davon sind rund 70 Prozent Frauen. In ihrem Job geht es nicht nur um satt und sauber, sondern auch um Menschlichkeit - eigentlich. Doch oft bleibt zu wenig Zeit für die etwa 27 000 Pflegebedürftigen in den Heimen der Stadt.

© Kitty Kleist-Heinrich

Update

Pflegenotstand: Ab Donnerstag wird in Marzahn gestreikt

In Pflegeheimen fehlen Fachkräfte. Trotzdem sind die Löhne vor allem in der Hauptstadt niedrig. Ab Donnerstag wird in drei Ost-Berliner Heimen für mehr Geld gestreikt.

Irgendwann ist ihr klar geworden, dass ein bettlägeriger Mensch für manche bloß eine Geldquelle ist. Doch eigentlich mag Susanne Lüttich (Name geändert), ausgebildete Altenpflegerin, Mitte 30, ihren Beruf. Leise sagt sie: „Ich arbeite gern mit Menschen.“ Lüttich ist keine, die zur Rebellion neigt. Zu viel Sorge um ihren Job. Doch neulich entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dass niemand seinen Arbeitsplatz verlieren darf, weil er seinen Arbeitgeber wegen Missständen anzeigt. Dem Urteil vorausgegangen war ein jahrelanger Streit zwischen einer Altenpflegerin und dem Berliner Klinikkonzern Vivantes. Lüttich sagt: „Und dann dachte ich, auch bei uns muss was passieren.“

Mit „bei uns“ meint sie ein Pflegeheim in Biesdorf. Es ist morgens, 7 Uhr, Lüttich kommt von der Nachtschicht. Seit 22 Uhr war sie für 30 Menschen zuständig, hat sie auf die Toilette begleitet, schwere Männer in ihren Betten umgedreht, damit sie sich nicht wundliegen, hat nachts um 2 Uhr neue Windeln angelegt. „Am schlimmsten ist es, wenn man ein leeres Bett findet“, sagt Lüttich. Die Heime betreuen immer mehr Demenzkranke – und die neigen zur Bettflucht. Doch weil auch Demenzkranke ein Recht auf freie Bewegung haben, können nur Mitarbeiter sie vom Losrennen abhalten, Türen verschließen ist verboten. Eine Bewohnerin habe man einmal nach Stunden draußen im Schnee gefunden.

Lüttich betreut oft Alte der Pflegestufe III, denen sie laut Vertrag zwischen Krankenkassen und Senat täglich 300 Minuten beim Waschen und Essen helfen muss. „Wir haben zu viel um die Ohren, um das zu schaffen“, sagt sie.

Die Heimleitung bestreitet das. Von der staatlichen Heimaufsicht, die den Personalschlüssel kontrolliert, heißt es, fast alle Häuser hätten formal genug Mitarbeiter. Doch das Gesetz gebe nur den Rahmen vor, sagt Behördenleiter Michael Meyer: „Der Personalschlüssel muss auf den Monat gerechnet hinhauen, dass heißt aber auch, dass nicht an jedem Tag alle da sind.“ Lüttich ist seit Jahren dabei, sie hat zahlreiche Rettungsärzte gerufen, Angehörige beruhigt, sich von verwirrten, 90-jährigen Damen als „miese Hure“ bezeichnen lassen. Am Monatsende bekommt sie 1900 Euro brutto.

An diesem Donnerstag wollen Lüttich und ihre Kollegen aus insgesamt drei Ost-Berliner Heimen für mehr Lohn streiken. Die Heime gehören dem Privatunternehmen Alpenland, das bundesweit Häuser betreibt. Lüttich würde im Fall eines Streiks nur noch das Nötigste am Krankenbett erledigen. Der Heimleitung wird eine Notdienstvereinbarung vorgelegt, in der lebensnotwendige Maßnahmen festgeschrieben sind. Der Betriebsrat sagt nach langem Nachdenken: „Wir wollen keinen Streik, aber anders kommen wir nicht weiter.“

Lesen Sie auf Seite 2, warum die Zeit für die Pflegekräfte arbeitet.

Die Geschäftsführung bedauert die Eskalation. Das Heim hat bei der letzten Prüfung durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung nicht schlechter abgeschnitten als viele andere Berliner Heime. Mit den Zuständen, gegen die sich die Vivantes-Pflegerin wehrte, sei es nicht vergleichbar, sagen Kenner der Branche. Doch wie in den meisten Heimen ist die Personaldecke so dünn, wie es das Gesetz erlaubt. Aus vielen Berliner Häusern wechselten zuletzt Schwestern nach Westdeutschland, wo es mehr Lohn gibt. So weit muss Lüttich nicht schauen. Schon bei Alpenland in Zehlendorf werden 300 Euro mehr gezahlt.

Am Mittwoch legten der Arbeitgeberverband der Branche und das renommierte Wirtschaftsforschungsinstitut RWI ein „Faktenbuch Pflege“ vor. Darin soll es auch um die Löhne gehen. Viele Heimbetreiber der Region wissen auch ohne den RWI-Bericht, dass sie wenig zahlen: „Die Menschen im Osten der Stadt arbeiten einfach für weniger Geld, warum sollte eine Geschäftsführung freiwillig mehr zahlen?“, sagte einer noch im vergangenen Jahr.

Vor allem im Süden der Republik werden heute Löhne bis 2900 Euro gezahlt, von der Schweiz ganz zu schweigen. Bernd Meurer, Präsident des Bundesverbandes privater Anbieter sozialer Dienste (BpA), der allein in Berlin 130 Pflegeeinrichtungen vertritt, berichtete kürzlich von 3000-Euro-Kopfprämien, mit denen erfahrene Pfleger nach Süddeutschland geworben werden.

Der Fachkräftemangel ist inzwischen so groß, dass viele Arbeitgeber sagen, sie würden sofort mehr zahlen, wenn die Krankenkassen mitmachten. „Höhere Löhne sind wünschenswert, dazu müsste der Gesellschaft die Pflege ihrer Alten und Schwachen aber mehr wert sein“, sagt BpA-Sprecher Steffen Ritter. Bekommen Frauen wie Susanne Lüttich mehr Geld, folgen daraus letztlich höhere Versicherungsbeiträge. Denn die Heimsätze, aus denen auch die Schwestern entlohnt werden, legen Betreiber wie Alpenland nicht allein fest, sondern sie werden mit den Pflegekassen und der Senatssozialverwaltung ausgehandelt. In vergleichsweise einkommensschwachen Regionen wie Berlin müssen Sozialämter häufig den Anteil übernehmen, den sonst der Bewohner oder seine Angehörigen zu bezahlen haben. Ein Heimplatz der Pflegestufe III kostet mehr als 3000 Euro im Monat. Davon gehen Essen, Energie, Miete ab, der Spielraum für die Lohnsumme sei klein, sagen Betreiber.

Die Zeit arbeitet, so zynisch das klingt, für Susanne Lüttich und ihre Kollegen. Denn die Gesellschaft wird älter, der Bedarf an Pflegeprofis wird weiter steigen, während viele Schwestern vorzeitig aussteigen. Kaum jemand arbeitet bis zur Rente, kaputter Rücken, Stress, Burn-out. „Ohne Personal aus dem Ausland wird es künftig nicht zu schaffen sein“, sagt Branchensprecher Ritter. Dass die Fluktuation in vielen Häusern hoch ist, weiß man auch bei der Heimaufsicht. Es gebe Häuser, sagt Behördenleiter Meyer, die monatelang keine gelernte Altenpflegerin mehr finden.

Dennoch ist ungewiss, wie viele Kollegen sich am Streik beteiligen. Schwestern und Pfleger drängt es eher nicht auf die Barrikaden. Susanne Lüttich sagt: „Man hat sich daran gewöhnt, für andere da zu sein, nicht so sehr für sich selbst.“

Informationen zu 263 Berliner Pflegeheimen: www.gesundheitsberater-berlin.de.

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