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Berlin: Politik nach Noten

Lutz Kirchenwitz war Leiter der DDR-Singtruppe „Oktoberklub“. Er organisiert seit Jahren ein Musiktreffen, das früher „Festival des politischen Liedes“ hieß

Er muss sich ein bisschen fühlen wie früher. Warten auf den Besuch aus Amerika. „Ist Judy Gorman schon gelandet?“, fragt Lutz Kirchenwitz einen seiner Mitarbeiter. „Sie ist da, muss also auf dem Weg sein“, antwort dieser. Kirchenwitz hat die Folk-Sängerin fürs Festival „Musik und Politik 2004“ gebucht, das heute beginnt.

Festivals organisieren, das kann der Kulturwissenschaftler. Lange Zeit war er Leiter der DDR-Singegruppe „Oktoberklub“. Mitte der 60er Jahre formierte sich in den USA im Zuge der Proteste gegen den Vietnamkrieg auch eine Folkmusikbewegung, „die hat sich bis zu uns verbreitet“, sagt Kirchenwitz. Junge Ost-Berliner sammelten sich um den kanadischen Banjospieler Perry Friedman. Sie sangen Lieder über ihren Alltag und über Freiheitskämpfe. Der Oktoberklub fühlte sich ein bisschen als Avantgarde, erinnert sich eine ehemalig Sängerin. Ab 1970 organisierten dann der Oktoberklub und die SED-Jugendorganisation FDJ das Festival des Politischen Liedes. Miriam Makeba, Mikis Theodorakis, Pete Seeger, Hannes Wader oder Ute Lemper: Einmal im Jahr kam mit ihnen die Welt in die DDR. Um sie zu hören, legten sich manche nachts mit Schlafsäcken vor die Ticketkassen. Chile, Nikaragua, Südafrika – durch ihre meist politisch verfolgten Künstler bekamen die Länder ein Gesicht.

In politische Konflikte mit der Staatsmacht gerieten auch kritische ostdeutsche Künstler ab Mitte der 60er Jahre immer mehr. Wolf Biermann bekam ein generelles Auftrittsverbot, Bettina Wegener ernste berufliche Schwierigkeiten. „Wir sahen die Probleme, aber die Frage war: Wie machen wir weiter“, erinnert sich Kirchenwitz.

Der 58-Jährige sitzt in seinem kleinen Büro in Prenzlauer Berg. „Andere wählten den Affront, wir wollten in den Institutionen streiten.“ Politisch riskiert hat der Oktoberklub unter Lutz Kirchenwitz nicht viel.

Bettina Wegener war irgendwann nicht mehr da. „Ach jetzt ist sie drüben“, dachte Kirchenwitz damals. „Wir hatten zusammen angefangen, dann haben sich unsere Wege getrennt. Wie das genau kam, das habe ich von ihr dann nach der Wende erfahren. Ich war sehr betroffen“, sagt er. Er meint aber auch das Ende der DDR und das des Festivals. Um wenigstens die Erinnerung zu retten, begann er mit einigen ehemaligen Mitstreitern, die vielen Konzerte und Debatten zu archivieren. „Sichern, sichern, sichern hieß es“, sagt Rolf Fischer, der früher bei der Gruppe „Karls Enkel“ spielte. Inzwischen gibt es etwa 3500 Tondokumente auf digitalen Hörkassetten.

Im Büro sitzen und archivieren, für Lutz Kirchenwitz war das irgendwann zu wenig. Er hatte zu DDR-Zeiten als einer der Festivalleiter Massenveranstaltungen organisiert. „Und ich habe mich immer für sozial engagierte Kunst interessiert“, sagt er. Vom Verein Lied und Soziale Bewegungen e.V., den er mitgründete, begann er wieder Ausschau nach Künstlern zu halten. „Ich wollte welche finden, die verschiedene Stilrichtungen und etwas zu sagen haben.“ Seit 2000 holte Kirchenwitz mit wenig Geld dann Sänger auf die Bühne. „Wir haben uns von Jahr zu Jahr gehangelt“, sagt er. Erst gab es ABM-Stellen, aber die sind jetzt gestrichen. Jeder bei dem Verein arbeitet nun ehrenamtlich.

Für das diesjährige 5. Festival (es trägt seinen Namen seit 2001) zahlte die Bundeszentrale für politische Bildung 20000 Euro. „Das brauchen wir als Gage für Künstler aus dem Ausland.“ Sie treten mit den deutschen Sängern wie Konstantin Wecker, Hans-Eckhardt Wenzel und Mellow Mark auf. „Der Wecker hat mich beeindruckt, als er auf der Antikriegsdemonstration sang“, sagt Kirchenwitz. Es gebe viele Menschen, die sich heute für etwas engagieren wollen. Bei den Jüngeren seien das eher die Hip-Hoper, wie eine geladene senegalesische Gruppe, die mit Mellow Mark auftritt. Der findet es besonders „geil, mit Wecker auf der Bühne zu stehen, das ist eine Ehre.“ Für Kirchenwitz ist das Konzert ein Experiment. „Er hält den Laden zusammen und die Leute, sanft und nachdrücklich, manchmal opportunistisch. Aber deshalb gibt es das Festival jetzt auch wieder“, sagt Rolf Fischer über seinen Kollegen. Alte Barden neben jungen Künstlern heißt in diesem Jahr das Motto. Und für die Konzerte gibt es inzwischen sogar Festivalausweise, letztes Jahr nahm man noch die alten mit neuen Aufklebern. Judy Gorman aus den USA ist jetzt angekommen. „Hey Judy“, sagt Kirchenwitz. Ihr Flugticket hat die Sängerin selbst bezahlt.

Festival Musik und Politik 2004: 25. bis 29.Februar, Veranstaltungen im Internet unter: www.songklub.de

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