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Missbrauch: Dem Täter nach 32 Jahren ins Gesicht gesehen

Erzieher haben einen Jungen in einem Heim in Hessen missbraucht. Der Pädagoge soll auch für die Caritas in Berlin tätig gewesen sein.

Von Patricia Wolf

„Durch die aktuelle Berichterstattung ist die Vergangenheit bei mir wieder hochgekommen”, berichtet der Berliner Stephan H. Die Taten liegen lange zurück. Stephan H., heute 49, machte als 17-Jähriger eine Zeugenaussage gegen Winfried M., den Erzieher seines Internats-Wohntrakts. In der Folge wurde der Heimbetrieb eingestellt und nur noch externe Schüler an der Stiftsschule St. Johann im hessischen Amöneburg unterrichtet. Den Schilderungen früherer Heimbewohner nach soll der Pädagoge über Jahre hinweg ihm anvertraute Jungen sexuell missbraucht haben.

„Er hatte in unseren Reihen eine ihm treu ergebene, ihn bewundernde Anhängerschar“, beschreibt Stephan H. seine Beobachtungen von damals. Er selbst sei 15 Jahre alt gewesen, als die Übergriffe geschahen. Etwa zwei Jahre später habe er sich schließlich dem Vertrauenslehrer der Schule anvertraut. Das Heim wurde geschlossen und Winfried M. verschwand. Nicht alle Internatsschüler waren darüber glücklich, dass das Heim als ihr Lebensraum geschlossen wurde. Stephan H. bekam nach eigener Aussage heftigen Widerstand zu spüren. „Das kreide ich der Schule an, dass sie mich danach alleine gelassen haben. Es gab keinerlei Nachbetreuung.“ Der beschuldigte Winfried M. habe damals alles abgestritten, ihn öffentlich als Lügner bezeichnet und angeschrien. Einige der Mitschüler hätten ihn sogar angefeindet, obwohl sie über Insiderwissen verfügten. Inzwischen hat der ehemalige Erzieher Übergriffe eingeräumt. Das Bistum Fulda, dass heute selbst in die Öffentlichkeit gehen will, teilte mit, ein weiteres mutmaßliches Missbrauchsopfer an die Staatsanwaltschaft gemeldet zu haben.

Auf Vermittlung des zuständigen Generalvikariats hin gab es dieser Tage ein Treffen zwischen Stephan H. und dem mutmaßlichen Täter Winfried M. Der ehemalige Erzieher, der sexuelle Übergriffe eingestand, hatte gebeten, sich entschuldigen zu können. „Es hat mir einiges abverlangt, mich mit ihm zu treffen. Die Erinnerungen an die Ohnmacht und den Vertrauensverlust kamen wieder hoch“, beschreibt Stephan H. Doch er habe diesen Schritt gewagt, „um von Angesicht zu Angesicht zu überprüfen, ob sein Bedauern echt ist.“ Schließlich habe er sich dann einem sehr verunsicherten Mann gegenübergesehen. „Er war wie unter Schock“. Nach dem Termin, so Stephan H., sei er sehr aufgewühlt gewesen. „Ich habe keine Rachegefühle, aber man kann die Vergangenheit nicht beschönigen. Ein Täter muss es aushalten, wenn man die Dinge beim Namen nennt.“

Die Vertreter des Bistums Fulda seien sehr unterstützend und respektvoll mit ihm umgegangen, sagt Stephan H. Man hätte ihm nicht das Gefühl gegeben, vertuschen zu wollen. Heute ist der Berliner selbst Vater eines Teenagers. Er sucht Frieden. Inneren und äußeren. Rund um die Missbrauchsvorwürfe und deren Veröffentlichung kam es zu heftigen Diskussionen unter den ehemaligen Schülern der hessischen Stiftsschule. Inzwischen sind sie Männer in den besten Jahren, darunter Akademiker, Unternehmer, angesehene, einflussreiche Persönlichkeiten, viele von ihnen haben selber Kinder. Sie leben weit gestreut, einige auch in Berlin. Von seelischen Verletzungen möchte nicht jeder Betroffene gerne reden. Groß ist die Furcht vor dem Stigma der Schwäche, dass das Opferbild im Falle sexuellen Missbrauch begleitet.

Der damalige Erzieher Winfried M. war bis 2006 gewähltes Beiratsmitglied des Bundesverbandes für Erziehungshilfe e. V., der aus Mitteln des Bundesministeriums für Familien, Frauen, Senioren und Jugend gefördert wird. Seine letzte Arbeitsstelle vor dem Ruhestand hatte er von 1995 bis 2003 in einer Einrichtung der Caritas in Sachsen, in der auch misshandelte und missbrauchte Kinder und Jugendliche leben, die von Jugendämtern aus ihren Familien herausgenommen wurden, um sie weiterer Gefährdung zu entziehen.

„Ich war Heimleiter, Hausleiter und Erzieher in einer Person“, wird Winfried M. in einer Internetpublikation des Bistums Dresden-Meißen über seine Arbeit zitiert. Weiter heißt es dort, er sei Anfang der 90er Jahre beim Caritasverband Berlin tätig gewesen. Welcher genauen Tätigkeit der Pädagoge in Berlin nachging, ob er im direkten Kontakt zu Schutzbefohlenen stand und ob es weitere Übergriffe gab, ist zur Zeit noch unklar. Nach Angaben des Pressesprechers der Caritas des Erzbistums Berlin, Thomas Gleissner, waren die Missbrauchsvorwürfe gegen Winfried M. aus dessen Zeit in Hessen dort bislang unbekannt. Eine intensive Prüfung soll nun erfolgen.

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