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Polizei tötet Räuber: Wollte erschossener Afghanistan-Soldat sterben?

Der von Berliner Polizisten erschossene Räuber war bis Ende 2006 Soldat in Afghanistan. Bekannte machen der Bundeswehr jetzt Vorwürfe, ihn nach dem Einsatz allein gelassen zu haben.

Ihm fallen immer wieder zwei Worte ein, wenn er über die tödlichen Polizeischüsse in Neukölln spricht. "Tragisch und traurig", sagt Mustafa Ö. Dabei denkt er an den Erschossenen - seinen Freund Sebastian H. (22). Denn der sei einer gewesen, der offenbar keinen richtigen Halt gefunden hatte im Leben. Der in jener Nacht zu Donnerstag Täter und Opfer zugleich wurde: Vom mutmaßlicher Straßenräuber zum Erschossenen. Getötet in der Neuköllner Niemetzstraße durch zwei Polizeikugeln, weil er auf der Flucht seine täuschend echt aussehende Gaspistole auf die beiden Zivilbeamten gerichtet haben soll.

Mustafa Ö., 32 Jahre alt, sitzt mit seinem Vater Nurettin Ö. in dessen "Design.art"-Druckerei in der Niemetzstraße, nur wenige Meter vom Tatort entfernt. In dem Laden hat Sebastian H. die vergangenen Wochen als Aushilfe gearbeitet. "Er stand vor dem Nichts. Ich habe ihn wie einen Sohn aufgenommen", sagt der 48-Jährige. Nachdem Sebastian als Berufssoldat von einem sechsmonatigen Afghanistan-Einsatz zurückgekommen war, sei er mit seinem Leben nicht mehr klar gekommen. "Der Vertrag war Ende 2006 ausgelaufen. Er lebte dann von Arbeitslosengeld", erzählt Mustafa. Geredet habe Sebastian viel - aber nur wenig über sich. Nurettin und Mustafa Ö. sehen auch die Bundeswehr in der Verantwortung für den Ex-Zeitsoldaten. Ihr Vorwurf: Mangelnde Nachsorge. "Meiner Meinung nach hat ihn die Bundeswehr danach links liegen lassen", sagt Mustafa. "Niemand hat von denen gefragt, wie es ihm geht, ob er klar kommt."

Nach Rückkehr aus Afghanistan sei in tiefes Loch gefallen

Gleich nach der Schule hatte sich Sebastian H. bei der Bundeswehr verpflichtet. Zweieinhalb Jahre lang sei er in Stuttgart beim Panzerbatallion stationiert gewesen, dann folgte der Einsatz in Afghanistan. Und nach der Rückkehr sei dann "in das tiefe Loch" gefallen, aus das ihn niemand gezogen hat. "Kaum Verwandte, keine Freunde und keine Partnerin, die einen auffängt", zählt Mustafa Ö. auf. Darüber sei Sebastian traurig gewesen.

"Kurz bevor er erschossen wurde, saßen wir noch in der Kneipe zusammen. Da hat er mir sein Herz ausgeschüttet", sagt Mustafa. Mehrere Bacardi Cola tranken die beiden im Billard-Eck in der Niemetzstraße. Dann sei Sebastian ins Reden gekommen. Er habe Mustafa geschilderte, wie allein er sich fühlte. Mit steigendem Alkoholkonsum kamen die Emotionen hoch, und plötzlich seien ihm Tränen über die Wangen gelaufen. "Er hat mir erzählt, dass sein Vater vor nicht allzu langer Zeit gestorben ist. Und dass er mich dafür bewundert, dass ich eine Familie habe", sagt Mustafa. Von seiner Mutter, die nahe Potsdam lebt, habe er nur wenig erzählt, ergänzt Nurettin Ö. Der junge Mann, der so schnell mit seinem Sohn und dessen Kumpels Freundschaft schloss, habe ihm leid getan. "Ich besorgte ihm zunächst eine Unterkunft in einem Obdachlosenheim am Hermannplatz und dann über Bekannte eine Wohnung in Tempelhof", erzählt Nurettin Ö. "Bei der Arbeit war er pfiffig, konnte gut mit Kunden umgehen und war penibel. Ein Überkorrekter, was die Arbeit angeht - eben wie ein Soldat", sagt Nurettin Ö.

"Vielleicht wolte er ja, dass er erschossen wird"

Umso unverständlicher ist es für ihn und seinen Sohn, dass Sebastian in jener Nacht einen 21-jährigen Touristen aus Westdeutschland mit einer Gaswaffe bedroht und ausgeraubt haben soll. Von Schulden, die Sebastian möglicherweise hatte, sei ihnen nichts bekannt gewesen. "Und wenn es so wäre, hätte er doch theoretisch bei uns in die Kasse greifen können", sagt Nurettin Ö.

Die Waffe, die er dabei hatte, "zum Angeben", wie Mustafa ergänzt, sei defekt gewesen. Doch konnten die beiden Zivilpolizisten das ahnen?. "Nein, natürlich nicht, die haben ihr Leben bedroht gesehen", sagt Mustafa. Eine Kugel traf Sebastian in den Arm, die andere tödlich in die Brust. "Aber hätten die ihn nicht irgendwie anders handlungsunfähig machen können?", fragt sich Nurettin Ö.

Die Beute, für die Sebastian H. sein Leben riskierte, war gering: Das Schlüsselbund des beraubten Touristen, eine leere Geldbörse und eine Packung Zigaretten fanden die Beamten bei ihm. Mustafa hält einen Moment inne. Dann erzählt er, dass Sebastian deshalb Bandagen um die Handgelenke trug, weil er sich vor einiger Zeit schon mehrfach die Pulsadern aufgeschnitten haben soll. Vielleicht, sagt Mustafa, wollte er es in dem Augenblick ja, dass er erschossen wird. Vielleicht war ihm alles egal.

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