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Prozess: Kinder allein zu Hause: Bewährung für die Mutter

Eine 47-Jährige Mutter aus Prenzlauer Berg hatte ihre vier Kinder wochenlang sich selbst überlassen. Vor Gericht rechtfertigte sich die Frau: „Irgendwann war ich auch mal dran“. Sie bekam 21 Monate auf Bewährung.

Ihre vier Kinder hausten monatelang in einem Chaos von Müll, Schmutz und Schimmel. Gabriele B. aber verbrachte immer mehr Zeit bei ihrem Freund – erst Nächte, dann Tage, später Wochen. Zuletzt kam die Mutter nur noch ab und zu vorbei, um Joshua, dem Ältesten, ein paar Euro in die Hand zu drücken. „Warum ließen Sie die Kinder allein?“, fragte der Richter. Die 47-jährige Frau zuckte mit der Schulter. „Ich kann mir die Frage auch nicht beantworten.“ Kurz darauf klang es trotzig, als sie sagte: „Irgendwann war ich auch mal dran.“

Der Kühlschrank voller Fliegen, die Zimmer voller Spinnweben

Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht – so lautete der Vorwurf der Anklage. Die Mutter ahnte, dass sie um eine Verurteilung nicht herumkommen würde. Die Spuren ihrer Schuld hatten sich in ihrer Wohnung in Prenzlauer Berg zu Bergen aufgetürmt. Als Polizisten am 26. April 2006 die Wohnung öffneten, stockte ihnen der Atem: In allen Zimmern waren die Decken und Möbel mit Spinnweben überzogen, auf dem Fußboden klebriger Müll, das elektrische Licht funktionierte nicht, im Kühlschrank lagen neben toten Fliegen vergammelte Lebensmittel. In dem Unrat lebten ihre vier Kinder, damals acht bis zwölf Jahre alt.

Gabriele B. ist gelernte Erzieherin. Sie hat bis zur Geburt von Joshua gearbeitet. Damals waren sie und ihr Lebensgefährte, ein gebürtiger Mosambikaner, mit ihrem Leben offenbar noch zufrieden. Doch als der jüngste Sohn noch keine zwei Jahre alt war, soll der Vater die Familie verlassen haben. „Frau B. balancierte am Rande ihrer Belastbarkeit“, sagte der Verteidiger. Sie sei depressiv geworden. Die Vernachlässigung der Kinder und der Wohnung sei ein „schleichender Prozess“ gewesen. „Die Kräfte reichten nicht, sie hat vor der Aufgabe kapituliert.“

Der Anwalt brachte vor allem finanzielle Nöte der alleinerziehenden Mutter ins Spiel. Auch habe das Jugendamt, bei dem Gabriele B. seit 1998 bekannt ist, nicht rechtzeitig eingegriffen. Man habe es sich leicht gemacht und einfach die Unterstützung gestrichen, als Gabriele B. den Zutritt zur Wohnung verwehrte. Dabei habe sich der Hauseigentümer bereits Anfang 2007 beim Jugendamt gemeldet, weil er unhaltbare Zustände in der Wohnung festgestellt hatte.

Der 12-jährige Joshua wurde zum Familienoberhaupt

Die Mutter habe sich inzwischen geändert. „Sie ist bereit, staatliche Hilfe anzunehmen und sich einer Therapie zu unterziehen“, erklärte er. Gabriele B., eine zierliche Frau mit hochgesteckten Haaren und runder Brille, nickte ab und zu. Manchmal lächelte sie. „Haben Sie mal daran gedacht, dass die Kinder krank sein könnten?“, hakte der Richter nach. Gabriele B. hob erstaunt den Kopf. „Da war nichts Akutes.“ Sie habe sich mehr und mehr zu ihrem Geliebten hingezogen gefühlt, „weil da endlich mal jemand war, der mich gemocht hat – mit den Kindern“.

Vor allem kleine Joshua hatte damals alle Erwachsenen überrascht. „Wenn er nicht gewesen wäre, hätte das sicherlich katastrophale Ausmaße angenommen“, sagte die Staatsanwältin. Der 12-Jährige Joshua wurde vom großen Bruder zum Familienoberhaupt. Er und seine Geschwister bemühten sich, einen „normalen“ Anschein zu wahren. In ihrer Angst vor Trennung wuchsen die zwei Jungen und zwei Mädchen zu einer verschworenen Gemeinschaft zusammen.

Sie spielten im Hof, ohne zu stören. Sie tobten nicht durchs Haus und erledigten ihre Hausaufgaben. Joshua brachte seine Geschwister pünktlich ins Bett und schmierte ihnen morgens Pausenbrote. Die Kinder waren auch im Winter warm genug angezogen. Die Mutter aber soll für ihren Nachwuchs nicht einmal telefonisch erreichbar gewesen sein. Sie kam hin und wieder, um Joshua fünf bis zwanzig Euro Haushaltsgeld zu geben.

Die Mutter hat das Sorgerecht verloren

Der Junge kümmerte sich um alles, bis ihm die Situation über den Kopf wuchs. Als Gabriele B. zu einem Termin mit seiner Lehrerin und dem Jugendamt nicht erschienen war, sprach er über das Leben ohne Mutter. „Ich schaffe es nicht mehr, ich weiß nicht mehr, was ich machen soll“, gestand er und brach weinend zusammen. Trotzdem entschuldigte er sich für den schlimmen Zustand der Wohnung und sagte, dass ihm das alles peinlich sei. Die Kinder leben derzeit in einer betreuten Wohngruppe. Gabriele B., die das Sorgerecht verloren hat, besucht sie einmal wöchentlich. „Ich möchte mich bei meinen Kinder entschuldigen“, sagte sie in ihrem Schlusswort. „Ich möchte mit den Kindern von vorn anfangen.“ Sie weiß, dass es ein langer Weg sein wird. Die Richter verurteilten die Mutter zu einer Bewährungsstrafe von 21 Monaten. Zudem soll sie 100 Stunden gemeinnützige Arbeit leisten. Sie habe die Kinder erheblich gefährdet. „Das war ein krasser Fall der Verletzung der Fürsorgepflicht.“

Kerstin Gehrke

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