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Prozess: Machtprobe im Klassenzimmer

Ordnungsmaßnahme ohne Alternative: Das Amtsgericht sprach eine Lehrerin frei, die ihren Schüler fest angepackt hatte. Doch das Urteil ist kein Freibrief für Pädagogen.

Biounterricht in einer Berliner Schule, zweite Stunde. Ein Raunen und Lachen geht durch die achte Klasse. Ein Mitschüler spielt den Kaspar. Die Lehrerin hat keine Chance, zu ihrer Klasse durchzudringen. Dreimal ermahnt sie den Klassenclown. Dreimal ignoriert der sie. Nach dem vierten Versuch verweist sie ihn des Raumes – in freundlich, direktem Ton. „Nee, kein Bock“, antwortet der 14-Jährige schroff. Die Lehrerin wiederholt ihre Aufforderung mit Nachdruck, steht an seinem Tisch. Der Schüler unterhält weiter seine Sitznachbarn. Gespannt blickt die Klasse auf ihre Lehrerin. Was wird sie tun? Wer wird sich durchsetzen? Die Lehrerin weiß nur eines: Dass sie ihre Autorität nicht verlieren darf.

„Wenn ich ihn dann am Arm packe und sage: ‚jetzt sofort!’ begebe ich mich auf dünnes Eis, weil man Schüler nicht anfassen darf“ sagt die Lehrerin Jessica Silber. Sie begrüßt das Urteil des Amtgerichts, das vergangene Woche in einem ähnlichen Fall zugunsten einer Lehrerin entschieden hat. Die Lehrerin hatte einem 11-jährigen Schüler einen zwei Zentimeter großen blauen Fleck verpasst, als sie ihn aus dem Klassenzimmer beförderte. Ordnungsmaßnahme ohne Alternative lautete das Urteil, das eine Debatte darüber auslöste, ob kräftiges Zupacken eines Lehrers in Zukunft legitim sei.

Manfred Triebe, pensionierter Lehrer und Mediator an einer Hauptschule in Spandau, ist irritiert über diese Reaktion. „Das Urteil ist kein Freibrief für Lehrer. Solche Fälle sind jedes Mal ein Einzelfall, bei dem entschieden werden muss, ob es sich um eine Maßnahme oder eine Körperverletzung handelt.“ Vielmehr sollte über die Möglichkeiten der Lehrer diskutiert werden, wie sie sich in krisenhaften Situationen am besten verhalten sollten. Lehrer müssten heutzutage auch als Sozialarbeiter ausgebildet sein. Hinzu käme, dass sie auf das, was sie im Schulalltag erwarte, zu wenig fit gemacht würden. „Sie lernen, zu unterrichten, aber nicht Löwen zu bändigen.“ Sich täglich mit der Befriedung von Lernwiderständen, Konflikten und Unmotiviertheit auseinanderzusetzen, erfordere viel psychische Kraft. „Es gibt Lehrer, die derartigen Situationen, vor allem wenn sie älter werden, nicht standhalten.“

Angehende Lehrkräfte brauchen frühe Unterrichtspraxis

Laut Triebe brauche man frühere, längere und bessere Praktika während des Studiums – auch in schwierigen Klassen. Zudem sollten angehende Lehrkräfte bereits frühe Unterrichtspraxis bekommen, damit sie herausfänden, ob der Beruf zu ihnen passe. Schulen rät der Mediator, Regeln für bestimmte Abläufe gemeinsam mit den Schülern zu erarbeiten. „Zum Beispiel, was passiert, wenn ein Schüler im Unterricht auskeilt. Dann besteht auch die Chance, dass Schüler zur Einsicht kommen. Zudem wird ihnen die Möglichkeit genommen, sich bei den Lehrern durchzulavieren und bei dem einen Lehrer das und bei dem anderen das durchzusetzen.“ Gleichzeitig fühlten sich die Lehrer in einer brenzligen Situation nicht mehr auf sich alleine gestellt, weil sie die Schule im Rücken wüssten.

Einen Grund für das hohe Gewaltpotenzial an vielen Schulen sieht Norbert Gundacker, GEW-Sprecher für die Hauptschulen Berlins, in der Erziehung der Kinder. „Wir haben die Erfahrung gemacht, dass viele Eltern überfordert sind, die Schüler schon in der Grundschule hinten runterfallen oder im Alltag nur negative Beachtung finden. Dann kommen sie in die siebte Klasse und sollen sich an Regeln halten, die sie nie kennengelernt haben.“ Es sei ein mühseliger Prozess, ihnen Grenzen zu setzen. „Du darfst nicht telefonieren, nicht schwänzen, nicht rauchen, nicht zuschlagen. Das ist nicht leicht durchzusetzen, wenn die Mutter ihrem 12-jährigen Sohn zu Hause das Rauchen am Frühstückstisch erlaubt.“

An den Hauptschulen herrsche ein rauerer Ton als an bürgerlichen Friedenauer Gymnasien, sagt Gundacker. „Dort muss mancher Lehrer auf dem Pausenhof zupacken, um eine aggressive Situation zu entschärfen.“ Lehrerin Silber weiß, dass sie als zierliche Frau mit einer Gehbehinderung in so einer Situation wenig Chancen hätte. „Da muss man sich mit Fingerspitzengefühl überlegen, was man tut. Ich kann in jedem Fall nur mit Dingen drohen, die ich auch umsetzen kann.“ Erst kürzlich habe ein sehr großer Schüler versucht, sich mit ihr zu messen, indem er ihr ein hochwertiges Gerät nicht habe zurückgeben wollte. „Da habe ich ihn mit meiner rechten Hand gepackt und mit der linken leicht am Ohr gezogen.“ Der Schüler habe gelacht, hätte aber auch behaupten können, dass sie ihn verletzt habe. „Die Schüler wissen manchmal gar nichts, aber sie wissen, was Körperverletzung bedeutet. Einen Schüler, der zarter ist als ich, hätte ich sicher nicht angefasst.“ Und Tatsache bleibe immer, dass man Kinder nicht schlagen dürfe.

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