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Am Alexanderplatz zeigt die Polizei in den vergangenen Jahren stärkere Präsenz.

© Kai-Uwe Heinrich

Tödliche Attacke auf dem Alexanderplatz: Mord oder Totschlag? Urteil gegen Niclas L. fällt am Montag

Knapp zwei Jahre nach Jonny K. stirbt Torsten Neumann am Alexanderplatz. Der 19-jährige Niclas L. stach mit einem Messer direkt in sein Herz. Am Montag fällt das Urteil. Doch das Grundproblem bleibt.

Auf dem Alexanderplatz seien „Schwarz und Weiß aufeinandergetroffen“, damals im August vergangenen Jahres. Das sagte der Vater des getöteten Torsten Neumann zu Prozessbeginn vor einem Monat. „Ein Jungkrimineller und einer, der den Menschen wirklich geholfen hat.“ An diesem Montag werden Uwe und Petra Neumann nun hören, wie über jenen 19-Jährigen geurteilt wird, der ihren 30-jährigen Sohn durch einen Stich ins Herz umgebracht hat. Ist Niclas L. ein Mörder, der Streit suchte und jenen Mann angriff, der schlichten wollte?

Knapp zwei Jahre vor dem Tod von Torsten Neumann, in der Nacht zum 14. Oktober 2012, war der 20-jährige Jonny K. Opfer einer brutalen Prügelattacke am Alexanderplatz geworden, an deren Folgen er kurze Zeit später starb. Sein Tod hat die Stadt und die Wahrnehmung des Alexanderplatzes verändert – die Menge der polizeilich registrierten Vorfälle an diesem Platz hat das allerdings kaum reduziert (siehe nebenstehender Kasten).

Im Fall von Torsten Neumann fordert die Staatsanwaltschaft eine Jugendstrafe von neun Jahren. Niclas L. habe sein Messer gezogen, als die Situation bereinigt schien, so der Ankläger. „Vom Opfer ging keine Aggression aus.“ Es sei ein heimtückisch begangener Mord. Auf Totschlag und maximal sechs Jahre Gefängnis plädierte die Verteidigerin.

Wenn Niclas L. in den Saal geführt wurde, starrte er bislang zu Boden. Er sah die Eltern und den Bruder seines Opfers nicht an. Schmerz und Trauer stehen ihnen ins Gesicht geschrieben. Sie werden wohl auch am letzten Prozesstag wenige Meter von L. entfernt im Saal 704 sitzen. „Wir wollen wissen, warum einer mit so einem Messer umherrennt“, sagte der Vater aus Schwedt in der Uckermark. „Die Botschaft muss sein: Das lassen wir uns nicht mehr gefallen als Gesellschaft.“

Es ist eine dieser Gewalttaten, die so fassungslos machen, weil sie wie aus dem Nichts kommen. Täter und Opfer kamen nach durchfeierter Nacht aus einem Club. Sie kannten sich nicht. Bademeister Torsten Neumann, geschätzt als ein freundlicher, hilfsbereiter Mann, und seine Begleiter wollten am Nachmittag des 24. August an einer Freitreppe ausruhen, als L. mit Freunden auftauchte.

Der damals 18-Jährige fühlte sich genervt, weil zwei Frauen herumalberten. Er habe gefordert, dass sie „sich verpissen“ sollen. Da habe Torsten Neumann eingegriffen und gefragt: „Muss das sein?“ Weil der Mann auf ihn zukam, habe er sich bedroht gefühlt, „allenfalls in den Arm“ stechen wollen, erklärte L.

Er hatte einen Drogencocktail im Blut. Verminderte Schuldfähigkeit ist deshalb nicht ausgeschlossen. Das allein aber sei keine Erklärung für die Gewalt, sagte eine Psychiaterin. L. sei ein „früh gescheiterter Mensch“. Von seiner Intelligenz her unterdurchschnittlich, zu Hause sehr behütet, als Kind dem Spott von Mitschülern ausgesetzt. Seine Grundhaltung sei: „Alle, die nicht wirklich nett zu mir sind, sind gegen mich.“ Bereits als Kind nahm er Drogen und habe versucht, sich groß vor den anderen zu tun. Bis heute fühle er sich „extrem schnell provoziert“.

Sozialarbeiter bemühen sich seit Jahren um ihn. Er schwänzte in der Schule und verließ sie ohne Abschluss, er begann keine Berufsausbildung. Die Eltern hätten es nicht geschafft, ihn an Grenzen und Regeln zu gewöhnten, hieß es. Er habe aus Leerlauf und Langeweile Straftaten wie Diebstahl und Sachbeschädigung begangen. Urteile fielen milde aus.

„Ich kann es immer noch nicht fassen, dass durch meine Schuld ein Mensch gestorben ist“, erklärte der 19-Jährige. Eine 15 Zentimeter lange Klinge hatte er seinem Opfer in den Oberkörper gerammt. Der wuchtige Stich durchtrennte die fünfte Rippe. Torsten Neumann verblutete am Alex. Nicht mal 500 Meter von der Stelle entfernt, an der knapp zwei Jahre zuvor Jonny K. grundlos so schwer verletzt wurde, dass er starb.

Wie sicher ist der Alexanderplatz?

DAS PROBLEM

Der Alexanderplatz ist „ein komplizierter Ort, aber keine No-go-Area“. So hat es Innensenator Frank Henkel (CDU) formuliert. Immer wieder gibt es in der Gegend rund um den Fernsehturm Schlägereien und Messerattacken. Der am meisten beachtete Fall war der Angriff auf Jonny K. Der junge Berliner aus einer deutsch-thailändischen Familie war im Herbst 2012 am Alex zu Tode geprügelt worden. Das Problem besteht auf hohem Niveau weiter: Die Zahl der offiziell registrierten Bedrohungsdelikte lag 2012 bei 50, im Jahr drauf bei 48 und 2014 bei 61. Körperverletzungen registrierte die Polizei 2012 und 2013 jeweils fast 500 mal, im vergangenen Jahr sank die Zahl leicht auf 453. Raub wurde 2012 knapp 80 mal registriert, im Jahr drauf 62 mal, und 2014 gab es 54 Fälle. In der Summe ging die Gewalt nach Henkels Angaben in zwei Jahren um zehn Prozent zurück.

DIE REAKTION
Ein sogenanntes Kontaktmobil der Polizei ist schon seit Längerem unter der Woche tagsüber und von Freitag auf Sonnabend und Sonnabend auf Sonntag jeweils von 13 bis 6 Uhr am Alexanderplatz unterwegs. Der Bus, der mit zwei Polizeibeamten besetzt ist, gehört zum Konzept „Sichere Mitte“. Zudem ist laut Polizei von Montag bis Freitag zwischen 10 und 22 Uhr ein „Direktionskommando“ aus sechs Polizisten am Alexanderplatz im Einsatz. Sie suchen Gespräche mit Händlern, Anwohnern und Passanten und führen Kontrollen durch – etwa Jugendschutzkontrollen.

DIE ZUSTIMMUNG

Peter Trapp, Sicherheitsexperte der CDU, hält die Situation am Alexanderplatz für „entkrampft“. Inzwischen gebe es „eine gute Zusammenarbeit zwischen dem zuständigen Polizeiabschnitt, der Bundespolizei und der Bereitschaftspolizei mit freien Kräften“. Er hält es für wünschenswert, weitere freie Kräfte der Bereitschaftspolizei Richtung Alexanderplatz zu bewegen – auch wegen der unübersichtlichen Gegebenheiten vor Ort, die durch die große Baustelle derzeit noch erschwert werden. Für eine stationäre Wache jedoch sieht er keinen Anlass.

DIE KRITIK
Der SPD-Politiker Tom Schreiber fordert weiterhin eine feste Kombi-Wache mit 24-Stunden-Besetzung aus Landespolizei, Bundespolizei und Ordnungsamt. Ende vergangenen Jahres habe er sich gemeinsam mit Parteichef Jan Stöß einen Überblick über die Lage verschafft. „Es ist klar, dass die Beamten dort ihr Bestes geben“, sagt er. Doch es fehle an Logistik – allein um einen festen Anlaufpunkt zu haben, für Beamte wie für Hilfesuchende, sei eine feste Wache wie etwa am Hauptbahnhof wünschenswert.

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