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Vernachlässigungsfall

© dpa

Vernachlässigungsfall: Mutter lässt ihre Kinder im Heim zurück

Vier Kinder fast ein Jahr ganz allein zu Haus – der Vernachlässigungsfall erregte vor einem Jahr die Berliner. Die Geschwister leben immer noch im Heim. Indes scheint die Mutter ihre Besuche eingestellt zu haben.

Wieder einmal hatten die vier Geschwister Joshua, Frida, Maria und Moses vergeblich am S-Bahnhof gewartet. Mit hängenden Köpfen seien sie zurück in die Jugendeinrichtung getrottet: „Mama ist schon wieder nicht gekommen.“ Von dieser kleinen Szene berichten die beiden Erzieherinnen Yvonne und Ute. Nach drei Monaten hatte es angefangen, dann kam die Mutter immer seltener zu Besuch.

Die beiden Betreuerinnen arbeiten im Verein Kindeswohl e.V. in Berlin-Buch. Mehr als ihren Vornamen möchten die beiden Frauen nicht nennen, weil es um sie nicht geht. Sie wollen lieber von Joshua (13), Frida (12), Maria (11) und Moses (9) erzählen. Davon, wie die vier Kinder sich in der Wohngruppe entwickelt haben. Die vier sind jene Geschwister, deren Schicksal vor einem Jahr die Öffentlichkeit schockierte: Sie hausten ein Dreivierteljahr lang allein in der völlig verwahrlosten Vierzimmerwohnung in Prenzlauer Berg. Die Mutter war zu ihrem Freund gezogen und kam nur ab und zu vorbei, um den Kindern ein paar Euro zu geben.

Der 13-jährige Joshua übernahm die Rolle des Ersatzvaters

Joshua, als Ältester, versuchte mit allen Mitteln, das Bild einer heilen Familie aufrechtzuerhalten. Der Junge mit dem dunklen Teint und dem krausen Haar wechselte von der Rolle des großen Bruders in die des Ersatzvaters. Er schmiss, so gut es ging, den Haushalt, schmierte Pausenbrote für die drei Geschwister, legte frische Wäsche bereit und achtete darauf, dass alle vier gemeinsam abends pünktlich ins Bett gingen. Bis er offenbar irgendwann nicht mehr konnte und sich in einem Gespräch einer Mitarbeiterin des Jugendamtes anvertraute.

Seitdem wohnen die vier nicht mehr daheim bei ihrer 47-jährigen Mutter Gabriele B. „Wir haben die Kinder von der Schule abgeholt und in unsere Wohngruppe gebracht“, erzählt Yvonne. Die Geschwister sollten erst einmal zur Ruhe kommen und sich eingewöhnen in der neuen Umgebung, in der noch sechs andere Kinder untergebracht waren. Die beiden Jungen und die beiden Mädchen teilten sich jeweils einen Raum. „Die ersten Tage schickten wir sie nicht in die Schule, um sie von dem Medienrummel fernzuhalten“, erzählt Ute. Auch jetzt wollen weder die Erzieher noch das Jugendamt, dass die Kinder mit Journalisten sprechen. „Wir wollen sie da total raushalten, um sie zu schützen.“

Wie schlimm es in der Vierzimmerwohnung in Prenzlauer Berg ausgesehen haben muss, erfuhren die Betreuerinnen aus dem Polizeibericht. Die Toilette sei kotverschmiert gewesen, überall hätten sich Spinnweben, Müll und verschimmelte Essensreste befunden, hieß es darin.

Die Mutter hatte "einfach die Schnauze voll“

Warum Gabriele B. irgendwann fortging und offenbar nur selten vorbeikam, wissen auch die Erzieherinnen nicht. „Vielleicht hatte ich einfach die Schnauze voll“, hatte Gabriele B., arbeitslose Erzieherin, damals einer Zeitung gesagt. Anfangs hingen die Kinder wie Kletten aneinander. „ Abends saßen sie immer zusammen am Abendbrottisch“, erzählt Yvonne. Und ihre Kollegin erinnert sich, dass Joshua seine Geschwister regelrecht erzogen habe: „Frida, nimm den Ellenbogen vom Tisch, wenn wir essen“, habe er einmal gesagt. Und wenn einer von ihnen auf eine Geburtstagsfeier eines Schulfreundes eingeladen war, dann wollte er am liebsten gar nicht hingehen, „weil dann ja die anderen drei alleine bleiben mussten“, sagt Ute.

Und die Mutter? Die habe sich die erste Zeit noch sehr um ihre Kinder bemüht. Mittwochs und sonntags waren ihre Besuchstage. „Die ersten drei Monate kam sie regelmäßig“, erzählt Yvonne. Sie habe dann Hausaufgaben überwacht, draußen im Garten an den Klettergerüsten mit ihnen gespielt, abends mit ihnen Abendbrot gegessen. „Die Kinder suchten ihre körperliche Nähe, umarmten sie und schmusten mir ihr.“ Die Mutter sei auch völlig natürlich mit ihren Kindern umgegangen. „Unsere Beobachtungen waren sehr positiv“, sagt Ute. Doch nach drei Monaten ließ die Mutter immer häufiger die Termine ausfallen. Wenn sie dann doch mal wieder kam, habe sie keine großen Erklärungen gegeben. „Mir ging es nicht gut“, sei ihre Begründung gewesen. Die Kinder machten der Mutter keine Vorwürfe. „Die waren zwar innerlich enttäuscht. Aber sobald die Mutter da war, wollen sie die Zeit mit ihr positiv nutzen“, berichtet Ute.

Weihnachten verbrachte sie dann wieder zusammen mit ihren Kindern. Heiligabend hätten die Geschwister ausnahmsweise auch für ein gemeinsames Weihnachtsessen zurück in die Wohnung der Mutter gedurft, „aber ohne Übernachtung, das hat das Jugendamt nicht erlaubt“. Gabriele B. habe anfangs zwar noch Anstrengungen unternommen, die Wohnung zu säubern, „doch dann kehrte wieder Stillstand ein“, sagt Yvonne. Die Auflagen des Amtes konnte sie bislang nicht erfüllen.

Kinder gewöhnten sich an Situation

Währenddessen gewöhnten sich die Kinder offenbar immer mehr an ihr neues Zuhause. Sie bauten eigene Freundschaften auf und „entwickelten sich individuell weiter“, sagt Yvonne. Frida fing an zu pubertieren und interessierte sich für Mode, Tanzen und hörte La Fee. Joshua spielte weiterhin am liebsten Fußball und schwärmt nach wie vor für Ruud van Nistelrooy, Maria hing sich Tokio-Hotel-Poster übers Bett – nur der kleine Moses schaute noch am liebsten Zeichentrickfilme. Immer weniger hätten die Kinder gefragt, ob und wann sie denn zu ihrer Mutter zurückkehren können. In der Schule gibt es offenbar kaum Probleme. „Joshua ist ein super Schüler auf dem Gymnasium, Frida kommt nach den Ferien auf die Realschule, und die anderen beiden machen sich auch ganz gut“, berichten die Betreuerinnen stolz.

Vom leiblichen Vater der vier, einem gebürtigen Mosambikaner, wissen Ute und Yvonne nicht viel. Er habe nur ein paar Mal innerhalb des Jahres in der Wohngruppe vorbeigeschaut. Die Kinder hätten keine Nähe zu ihm entwickelt – vor allem die Mädchen nicht. Einige Male trafen sich die Kinder offenbar mit ihm am Gesundbrunnen-Center. Die Jungen seien dann mit teuren Trikots und Fußballzubehör zurückgekommen. Die Mädchen hätten weniger kostspielige Geschenke erhalten. „Ohrringe und so etwas.“

Jugendamt schickte Kinder gegen ihren Willen in neue Einrichtung

Im April stand dann die Verhandlung vorm Familiengericht an. Gabriele B. wurde das Sorgerecht entzogen. Auch der Vater war nach Meinung der Experten nicht in der Lage, für seine Kinder zu sorgen. Das Jugendamt habe dann auch beschlossen, „dass die Geschwister in eine neue Wohngruppe kommen“, sagt Ute. Da nun davon auszugehen sei, dass die Kinder für lange Zeit nicht zurückkönnen zur Mutter, habe das Amt eine „kleinere, intimere Unterbringungsmöglichkeit gesucht, die auch näher in ihrem gewohnten Kiez ist“, sagt Ute. Die Kinder hätten das zwar nicht gewollt und seien sehr traurig gewesen, „aber wir haben versucht, ihnen den Neubeginn leicht zu machen und ihnen erzählt, dass es in der neuen Gruppe auch toll ist“, sagt Yvonne. Warum das Jugendamt die Kinder gegen ihren Willen in eine neue Einrichtung schickte und ob es noch andere Gründe gab, dazu gab es von der Jugendstadträtin am Freitag keine Antwort.

Zum Abschied gab es für die Kinder eine Gartenparty. Mit Kuchen und Barbecue. Die Betreuerinnen Yvonne und Ute sagen, es sei das letzte Mal gewesen, dass sie Gabriele B. gesehen hätten. Wenigstens zur Abschiedsparty ihrer Kinder war sie gekommen. Am Ende bekamen Joshua, Frida, Maria und Moses von den Erziehern jeder ein eigenes Fotoalbum mit Aufnahmen aus dem vergangenen Jahr. Die gesammelten Zeitungsartikel übergab Yvonne dem neuen Team. Sie sollen sie für die Kinder verwahren: Für später, wenn sie irgendwann einmal alles aufarbeiten.

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