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Berlin: Porträt: Der Blitzableiter

Ein Mann mit tadelloser Reputation. Oberstaatsanwalt seit vielen Jahren, mit weißem Haar und Brille.

Ein Mann mit tadelloser Reputation. Oberstaatsanwalt seit vielen Jahren, mit weißem Haar und Brille. Keiner, dem man zutrauen würde, dass gegen ihn Strafanzeige um Strafanzeige eingeht - und der sich dessen noch nicht einmal schämt. "Strafanzeigen habe ich jede Menge", sagt Karlheinz Dalheimer freimütig. Auf seinem Schreibtisch stapeln sich Akten, darüber hängt ein Bild mit See und Angler. Dalheimer hat längst aufgehört, seine Strafanzeigen zu zählen und dürfte sich damit in prominenter Gesellschaft befinden: Außenminister Joschka Fischer, Verteidigungsminister Rudolf Scharping, Landwirtschaftsministerin Renate Künast und vor allen anderen Bundeskanzler Gerhard Schröder gehören zu den Spitzenreitern in der Republik.

Die Poststelle des Moabiter Landgerichts ist zur Sammelstelle geworden. Für die Klagen der Frustrierten und Unzufriedenen. In dem Justizpalast mit der lichtdurchfluteten Eingangshalle und ausladenden Treppen arbeitet die Abteilung Zwei der Staatsanwaltschaft. Wenn Dalheimer und seine sechs Kollegen morgens die Sicherheitskontrolle passiert haben, schauen in der Halle Figuren aus Sandstein auf sie herab: Die Religion, Lüge, Wahrheit, Friedfertigkeit, Gerechtigkeit und Streitsucht. Drei Buchstaben sind in die Bodenkacheln gebrannt: "KCG, Königliches Criminalgericht".

Dalheimers Büro im zweiten Stock wirkt dagegen eher bescheiden. Ein Schreibtisch, Regale und viele, viele Akten. Die "Zweite" der Berliner Staatsanwaltschaft ist so etwas wie ein juristischer Gemischtwarenladen, sie ist unter anderem zuständig für Brandstiftung, Sprengstoff, Presseinhaltsdelikte, Straftaten nach dem Wehrstrafgesetz, Straftaten auf dem Gebiet des Bundestagspräsidenten und Immunitätsverfahren.

Relativ neu ist das Dezernat 76, hier kümmern sich die Ankläger um (vermeintlich) straffällig gewordene Bundestagsabgeordnete. Nach dem Umzug der Bundesregierung eingerichtet, erfreut es sich wachsender Beliebtheit: 500 Strafanzeigen landeten im Jahr 2000 auf den Tischen der Staatsanwälte, in diesem Jahr rechnet Dalheimer mit 1200 Verfahren. Kein steter Strom, eher Ebbe und Flut. "Das hängt von aktuellen politischen Ereignissen ab", sagt Staatsanwalt Dalheimer.

Die BSE-Krise, der Mazedonien-Einsatz, die Flüge des Verteidigungsministers - ein Blick in die Zeitung genügt Dalheimer, um zu wissen, welche Arbeit auf ihn in der kommenden Zeit zukommen wird. Manche der Aufgebrachten halten sich kurz, andere schreiben halbe Romane. Einige Briefe klingen zornig, andere verzweifelt. Und immer geben die Schreiber den Politikern Schuld: Sie werfen Künast vor, gegen das Tierschutzgesetz verstoßen zu haben. Lasten Fischer seine Vergangenheit an. Beschuldigen Scharping der Untreue. Müntefering der Nötigung eines Verfassungsorgans, weil er die SPD-Abgeordneten aufforderte, geschlossen für den Mazedonien-Einsatz zu votieren. "Der Kanzler wird bei diesen Gelegenheiten auch immer mit ins Boot gezogen", sagt Dalheimer.

Doch nicht immer finden Dalheimer und seine Kollegen "eine juristische Schublade" für die Klagen der Laien. Wenn sich der stille Aufstand beispielsweise gegen die Liaison zwischen Gräfin von Pilati und Scharping richtet ("Der Mann hat doch Frau und Kinder!"), muss Dalheimer passen: "Das Verhalten des Verteidigungsministers mag auf Sie befremdlich wirken, ist aber strafrechtlich juristisch nicht fassbar."

Verfahren eingestellt, die Akte wird deshalb nicht weggestellt - aus alter Erfahrung. "Die sind von ihrer Argumentation so felsenfest überzeugt, dass sie häufig in die Beschwerde gehen", sagt Dalheimer. Die besonders engagierten Kandidaten schieben gleich noch eine Anzeige hinterher: Gegen den Staatsanwalt, der sich widerrechtlich weigere zu ermitteln.

In Dalheimers Büro geht es zu wie im Taubenschlag. Einer bringt Akten, einer holt Akten, einer will mehrere Unterschriften. Seufzend zieht Dalheimer einen Stoß roter Papierordner aus dem Stapel: 14 Strafanzeigen, "gegen Gott und die Welt", von einer Frau, an einem einzigen Tag. Rund 20 "Stammkunden" zählt die Zweite, Dahlheimer sagt, "man kennt sich inzwischen". Über Alter, Bildungsgrad oder Beruf der Anzeigenschreiber weiß der Oberstaatsanwalt nur wenig, aber mancher Charakterzug offenbart sich auf den ersten Blick. Bei den Kandidaten, die als Kontakt gleich drei Telefonnummern, E-Mail, Fax und Handy angeben beispielsweise. Oder die vermerken: Durchschrift dieser Anzeige geht an den Bundestag, Bundesrat, Bundespräsidenten, Europäischen Gerichtshof, Europäische Union...

Erheblich mehr Arbeit brachte der Regierungsumzug für "die Zweite" auch bei den so genannten Immunitätsverfahren mit sich. Die Zahl der Fälle, bei denen Diplomaten auf Abwegen erwischt wurden, schnellte vor zwei Jahren zwangsläufig nach oben. Zahlen will Dalheimer nicht nennen, nur so viel: "In der Regel geht es um Verkehrsdelikte, beispielsweise Trunkenheit am Steuer oder Unfallflucht", sagt Dalheimer. Nach vielen Telefonaten und Schreiben enden die Verfahren mit dem immer gleichen Ergebnis: Einstellung. "Wir haben für Diplomaten keine Strafgewalt." Die Opfer könnten dann aber zivilrechtlich gegen die Diplomaten vorgehen, und weil es unter den Botschaften darüber so etwas wie ein stilles Abkommen gebe, läuft der Ausgleich erfahrungsgemäß in der Regel unproblematisch.

Dass Dalheimer sich jetzt auch um "Straftaten auf dem Gebiet des Bundestagspräsidenten" befassen muss, hat der Oberstaatsanwalt ebenfalls dem Regierungsumzug zu verdanken. Da gibt es beispielsweise die Anzeigen gegen Touristen, die bei der Kontrolle im Reichstag die Geräte zum Schrillen brachten, weil sie ein Spring- oder Fallmesser in der Tasche trugen. Oder die Anzeigen gegen "Unbekannt", wenn den Besuchern auf dem Weg in die Kuppel wieder einmal die Brieftasche gestohlen wurde.

Dalheimer versteht seine Abteilung auch als eine Art Service-Einrichtung, als ein Ventil für die Wut enttäuschter Bürger. "Die Leute sind häufig frustriert und reagieren sich beim Schreiben ab." Den Berliner Abgeordneten geht es da nicht anders als den Politikern im Bundestag: Erregt jemand Aufsehen, hagelt es Strafanzeigen. "Auf Landesebene ist Gysi sehr beliebt", sagt Dalheimer. Im Zusammenhang mit der Bankaffäre traf es vor allem den damaligen Regierenden Bürgermeister Diepgen, Ex-Finanzsenator Kurth und den ehemaligen CDU-Fraktionsvorsitzenden Landowsky.

Als Dalheimer am 11. September die Nachrichten hörte, hat er es vermutlich bereits geahnt. Seit Tagen hatte sich der Zorn des Volkes vor allem gegen den verliebten Vielflieger Scharping gerichtet, dann brachen die Briefe plötzlich ab. "Seit dem Tag der Attentate in Amerika kam gegen Scharping keine einzige Anzeige mehr." Die Ruhe wird nur vorübergehend sein. Sollten die USA tatsächlich mit deutscher Beteiligung zurückschlagen, kann man sich ausrechnen, wer mit den nächsten Anzeigen zu rechnen hat. Scharping, Fischer, Schröder. Wegen Führen eines Angriffskriegs.

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