zum Hauptinhalt

Berlin: Preisschock: Kaffee plötzlich 50 Prozent teurer

Die Sorge vor der Mehrwertsteuer hat Tradition in Berlin. Eingeführt wurde sie 1968

Sie schürt Angst vor Teuerung und trübt die Neujahrsfreude: Auch wenn der Handelsverband Berlin-Brandenburg glaubt, dass sich trotz der erhöhten Mehrwertsteuer weniger verändert als erwartet, raten Verbraucherverbände zur erhöhten Aufmerksamkeit. Gerade in einer Stadt, die alles andere als wohlhabend ist. Heute, am ersten Verkaufstag des neuen Jahres, wird sich vielerorts zeigen, was um wie viel teurer geworden ist.

Anfang 1968, zu Beginn der Studentenbewegung und Außerparlamentarischen Opposition, hatten die West-Berliner vorm „Preistreiber“ Mehrwertsteuer allerdings mehr Angst. Da wurde sie nämlich eingeführt, begleitet von Käufersorgen und Politikerwarnungen an die Wirtschaft, es nicht zu „ungerechtfertigten Preiserhöhungen“ kommen zu lassen.

Mehrwertsteuer – das allein klang schon teurer als die bis dahin geläufige Umsatzsteuer. Geht es heute um einen Aufschlag nur für Konsumgüter von drei auf 19 Prozent, so waren das damals erst zehn, ein halbes Jahr später 11 Prozent, bei reduzierten Waren wie Lebensmitteln fünf und 5,5 Prozent. Der Tagesspiegel war am ersten Verkaufstag unterwegs: Vormittags hatten die meisten Läden wegen Inventur geschlossen. Tankstellen hatten ihre Preise um 2,7 Pfennig pro Liter erhöht. Das damalige Traditionslokal Aschinger am Zoo berechnete für die Erbsensuppe 92 statt 88 Pfennig. In Lebensmittelgeschäften waren zunächst kaum Veränderungen zu merken, wie auch in Drogerien, dort wurde Lebertran sogar billiger. Eine Kaffeestube verlangte für die Tasse im Ausschank 30 statt 20 Pfennig – eine saftige Preiserhöhung um 50 Prozent. Der Einzelhandelsverband tröstete, der Verbraucher sei eine Macht, müsse nur vergleichen. Der scharfeWettbewerb zwinge die Geschäftsleute zu schärfster Kalkulation, keiner könne es sich leisten, teurer zu sein als die Konkurrenz um die Ecke. Ein Aufschlag „über den Daumen gepeilt“ könne nach hinten losgehen. Die Gaststätteninnung kritisierte, Restaurants und Lokal schlügen einfach zehn Prozent auf, ohne zuvor die alte, schon einkalkulierte vierprozentige Umsatzsteuer abzuziehen. Experten ermittelten, dass alles, was über fünf Prozent hinausgehe, nichts mehr mit der Mehrwertsteuer zu tun haben könne.

Eine Berliner Zeitung berichtete von einem Friseur, der den Preis für einen Haarschnitt von 3 Mark auf 3,50 Mark erhöhen wollte, zulässig wären nur 3,18 Mark gewesen. Das Finanzministerium in Bonn kündigte an, gerade die Friseure „sehr genau zu beobachten“.

Autofirmen wie VW, Auto Union, NSU und Opel versicherten, die Preise blieben gleich. Die Bewag teilte mit, die neue Steuer mache „leider eine Umstellung unserer Tarif-Preise erforderlich“, rund 6,5 Prozent, „ohne dass wir selbst davon einen Vorteil haben“. Ein Berliner klagte, dass sich der Preis seines Gurgelwassers, das er in der Apotheke kaufte, von 8,25 Mark auf 11 Mark erhöht habe. Er beschwerte sich bei der Firma, die teilte ihm mit, die Erhöhung habe nur wenig mit der neuen Steuer zu tun. Aber die Produktion in Berlin sei eingestellt, die hiesigen Steuervorteile könne sie nun nicht mehr in den Preis einkalkulieren.

Als kurz vor Einführung der 11-prozentigen Mehrwertsteuer eine Preisbilanz gezogen wurde, zeigte sich, dass die Lebenshaltungskosten zwischen Dezember 1967 und Mai 1968 um 1,4 Prozent gestiegen waren.

Christian van Lessen

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false