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Zahltag. Berlins Bezirke können es sich nicht leisten, auf ausstehende Forderungen zu verzichten. Marzahn-Hellersdorf geht deshalb einen Weg, den andere deutsche Städte längst entdeckt haben: Es verkauft uneintreibbare Rechnungen an Inkassounternehmen.

© ddp

Pro & Contra: Sollen Bezirke Inkassounternehmen einschalten dürfen?

Wie kommt Marzahn-Hellersdorf an den Erlös ausstehender Rechnungen? Es verkauft die Forderungen weiter. Ein Modell für Berlin? Was meinen Sie, liebe Leserinnen und Leser?

Von Fatina Keilani

Marzahn-Hellersdorf macht ernst. Es verkauft als erster Berliner Bezirk einen Teil seiner Forderungen – an Inkassounternehmen. Noch bis Montag, 28. November, können Angebote abgegeben werden. Zum Verkauf stehen 13 Forderungen aus den Jahren 1995 bis 2010 im Wert von 262 967 Euro. Der Bezirk hält sie für nicht einbringbar. Die höchste liegt bei gut 50 000, die kleinste bei 26 Euro. Keiner der Schuldner gilt als insolvent. Andere Bezirke schauen dem Experiment interessiert zu. „Das ist ein guter, innovativer Weg“, meint Lichtenbergs neuer Bürgermeister Andreas Geisel (SPD).

Allerdings glaubt er auch, eine Forderung so weit zu bringen, dass der Bezirk sie niederschlagen müsse, sei ein sehr hoher Aufwand. „Wenn sich aber zeigt, dass das funktioniert und sich der Aufwand lohnt, könnte das sogar die Verpflichtung der Bezirke bedeuten, diesen Weg ebenfalls zu gehen“, meint Geisel. Nach der Landeshaushaltsordnung sei man verpflichtet, Einnahmen, die dem Land zustehen, auch zu realisieren. Lichtenberg hat privatrechtliche Forderungen in Höhe von sechs Millionen Euro offen, da könnte sich die Sache durchaus lohnen.

Charlottenburg-Wilmersdorf hat unter dem neuen Bürgermeister Reinhard Naumann (SPD) seinen Kurs geändert. Während Vorgängerin Monika Thiemen (SPD) den Aufwand als nicht lohnend ansah, will Naumann jetzt die Erfahrungen des Vorreiters Marzahn-Hellersdorf abwarten und dann überlegen, einen ähnlichen Weg zu gehen. Er lässt gerade die Höhe der offenen privatrechtlichen Forderungen erheben.

In Tempelhof-Schöneberg sagt Noch-Bildungsstadtrat Dieter Hapel (CDU) als stellvertretender Bezirksbürgermeister: „Wir haben nur gut 17 000 Euro privatrechtliche Forderungen offen, da lohnt sich eine Fremdvergabe nicht. Wenn es aber eine Rechtsgrundlage für öffentlich-rechtliche Forderungen gäbe, wäre es interessant, diesen Weg zu gehen – speziell bei Unterhaltsvorschüssen sind berlinweit mittlerweile Millionenbeträge aufgelaufen.“ Eine Grafik des Bundesverbands Inkasso zeigt allerdings: Die Rückgriffsquoten beim Unterhaltsvorschuss sind in Bayern und Baden-Württemberg mit 27 und 26 Prozent viel höher als in Berlin mit seinen zwölf Prozent. Geht es also doch?

„Der Unterhaltsvorschuss ist rechtlich eine Mischung aus privat und öffentlich“, sagt Verbandssprecher Marco Weber. „Wenn die Kommune in Vorleistung tritt, wird aus der öffentlich-rechtlichen Unterstützung für Mütter ein privatrechtlicher Rückzahlungsanspruch gegen den zahlungsunwilligen Vater. Der Staat gewährt den Unterhaltsvorschuss wie ein Darlehen“. Und diesen Rückzahlungsanspruch könne durchaus ein Inkassounternehmen geltend machen.

Was Marzahn-Hellersdorf plant, nennt sich „Factoring“. Dabei wird eine Forderung unter Wert verkauft. So bekommt der Bezirk wenigstens einen Teil des Geldes und ist die Sache los. Das ist auch der Grund, warum das Abgeordnetenhaus zu dem Verfahren befragt werden muss: Es muss den Verzicht auf Einnahmen erst einmal billigen. Der Käufer der Forderung treibt die dann als seine eigene ein.

Beim Inkasso dagegen wird ein Unternehmen beauftragt, die Forderung für den Bezirk einzutreiben, Gläubiger bleibt der Staat. Er trägt auch die Inkassokosten. „Der Staat muss sich als Gläubiger anders verhalten als ein Privatunternehmen. Dessen Schuldner weiß: Wenn er nicht zahlt, wird es nur immer teurer. Beim Staat als Gläubiger gilt das nur eingeschränkt“, sagt Weber. Das liege daran, dass der Staat zur Daseinsvorsorge verpflichtet sei.

So sehr die Berliner CDU sich schon lange für ein kommunales Forderungsmanagement einsetzt, so kritisch sieht sie jetzt das Vorgehen von Marzahn-Hellersdorf. „Dieser Schritt ist sehr weitgehend und zugleich laienhaft“, glaubt die Finanzpolitikerin Monika Thamm. „Ich rechne damit, dass der Bezirk allenfalls zehn Prozent der Forderungen beitreibt.“

Auch die Grünen sind skeptisch. „Die Erfahrungen mit diesem Experiment müssen sorgfältig ausgewertet werden“, sagt ihr Haushälter Jochen Esser. „Wir Grüne sind eher für ein Stufenmodell. Zum Beispiel könnte als erste Stufe die Ermittlung von Adressen an Private abgegeben werden.“ 120 000 Rückläufe erhalte die Polizei jedes Jahr, wenn Adressaten von Bußgeldbescheiden unbekannt verzogen sind. Dann gehe jedes Mal ein Kontaktbereichsbeamter nachschauen – ein Riesenaufwand. „Das könnte ein privater Dienstleister viel schneller erledigen. Die weiteren Schritte des Verfahrens könnten dann ja wieder hoheitlich erledigt werden.“

Genau so verfährt die hessische Stadt Wiesbaden, mit großem Erfolg. Sie hat ein Modell entwickelt, in dem sie auf verschiedenen Stufen mit Inkassofirmen zusammenarbeitet, die Hoheitsaufgaben aber in der Hand behält. Seither sind ihre Außenstände um monatlich 25 Prozent gesunken. Viele Adressaten zahlen schon, wenn die Einschaltung eines Inkassobüros bloß angedroht wird. Auch Baden-Württemberg hat Erfolg mit dem System.

Gut 47 Millionen Euro an privatrechtlichen Forderungen seien alleine bei der Berliner Polizei und der Feuerwehr offen, sagt Monika Thamm. Hier sind Grün und Schwarz einer Meinung: Da muss man ran. Zumal nach zwei Jahren die Verjährung einsetzt. Und anders als die Grünen sind die Christdemokraten jetzt auch in der Position, die Sache anzugehen.

Auf der nächsten Seite: Argumente für und gegen die Beteiligung von privaten Inkassounternehmen

Pro

Berlin darf sich nicht Griechenland zum Vorbild nehmen. Der Staat muss in der Lage sein, Steuern und andere finanzielle Forderungen, die ihm zustehen, auch selber einzutreiben. Dazu ist die öffentliche Hand als Sachwalterin der Bürger nicht nur moralisch, sondern auch gesetzlich verpflichtet. Alles andere ist Schlamperei.

Bezirksämter und Senatsbehörden dürfen nicht auf Einnahmen in zweistelliger Millionenhöhe verzichten, nur weil sie nicht in der Lage sind, sich das Geld von den Schuldnern zu holen, die offenbar glauben: Mit dem Staat kann man’s machen – da kommt es auf ein paar Euro doch gar nicht an. Es wäre eine völlig falsche Vorstellung von öffentlicher Daseinsvorsorge, irgendwelchen Schlaubergern die Schulden zu erlassen.

Zwar ist die Finanzpolitik eine hoheitliche Aufgabe, trotzdem ist es rechtlich durchaus möglich, private Inkassounternehmen einzuschalten, um die Landeskasse aufzufüllen. Andere Länder und Kommunen machen es Berlin ja schon vor. Jetzt will der Bezirk Marzahn-Hellersdorf auch in der Hauptstadt mutig vorangehen. Man kann nur hoffen, dass das gute Beispiel Schule macht. Inkassorechnungen sind nicht schön, aber erfahrungsgemäß ein starkes Drohpotenzial. Denn noch mal: Ein Land im Haushaltsnotstand kann es sich einfach nicht leisten, Forderungen in Millionenhöhe verjähren zu lassen. Ulrich Zawatka-Gerlach

Contra

Die Mitarbeiter der Verwaltung von Marzahn-Hellersdorf sind nicht im Nahkampf ausgebildet. Die wenigsten haben die Statur einer Schrankwand und das Potenzial, zahlungssäumige Geschäftspartner so richtig einzuschüchtern. Aber deshalb müssen sie das Schuldeneintreiben nicht an private Firmen auslagern. Die Mittel des Rechtsstaates stehen auch dem Bezirksamt offen: Mahnungen, Gerichtsverfahren, Pfändungen. Die Werkzeugkiste der privaten Schuldeneintreiber ist größer. Sie umfasst auch Hausbesuche, Veröffentlichung von Art und Höhe der Schulden im Umfeld des Schuldners, Androhung und Vollzug von Gewalt. Es sind effektive Maßnahmen, die einer Behörde nicht gut stehen. Denn Inkassoagenturen setzen ihre Forderungen konsequent durch. Ratenzahlung oder Stundung sind Worte, die man von ihren Mitarbeitern selten hört. Sie orientieren sich an Gewinnmaximierung, nicht am Gemeinwohl. Das Einzelschicksal, und sei es noch so hart, spielt keine Rolle mehr, wenn es gilt, den Kaufpreis des Schuldenbergs wieder reinzuholen.

Es ist ein Armutszeugnis, wenn der Bezirk nicht in der Lage ist, Forderungen einzutreiben. Und irgendwo muss auch mal Schluss sein mit der ausufernden Privatisierung. Sonst haben wir ruckzuck Geheimverträge zum Inkassobetrieb – und Gewinngarantien für die eintreibenden Unternehmen. Martin Schwarzbeck

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