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Nicht vergessen: Jonny K.

© Mike Wolff

Prügelattacke am Alex: Die Lichter brennen weiter für Jonny K.

Vor fast sechs Monaten wurde Jonny K. am Rande des Alexanderplatzes zu Tode getreten. Heute wäre er 21 Jahre alt geworden. Am Tatort trauern immer noch viele – Freunde wie Fremde.

Ein kalter Windstoß bläst die Friedhofskerze aus, nur wenige Sekunden, nachdem die junge Frau sie angezündet hat. Zum dritten Mal. Doch die Frau ist hartnäckig. Sie zündet den Docht noch einmal an und schützt die Flamme so lange mit den Händen vor Wind und Schneeregen, bis sich ein Loch ins Wachs gebrannt hat – und die Kerze nicht mehr ausgeht. Auf dem Boden liegt ein Plastikbeutel mit 50 Kerzen. An diesem Abend wird sie alle aufstellen, dort, wo vor fast sechs Monaten der 20-jährige Jonny K. zu Tode getreten wurde, als er einem Freund zu Hilfe kam. Am Rande des Alexanderplatzes, nahe der Grunerstraße. Und wo heute, nach einem knappen halben Jahr, noch immer ein grüner Pavillon Briefe, Kerzen, Blumen vor dem schlechten Wetter schützt. Regelmäßig ist Tina K., Jonnys große Schwester, hier und pflegt den Ort des Gedenkens.

Als die junge Frau mit dem Anzünden der Kerzen fertig ist, es ist mittlerweile dunkel geworden, flackern die Lichter in Form eines großen Herzens. Sie heißt Jeanette, lebt in Frankfurt am Main und ist nach Berlin gekommen, um das Benefizgedenkkonzert an Jonny K.’s heutigem Geburtstag zu besuchen. Und um am Tatort sowie am Grab Kerzen anzuzünden. „Hier fühlt es sich weniger schlimm an, dass er nicht mehr da ist“, sagt sie. Unter einem roten Mantel trägt sie ein Sweatshirt mit dem Foto des Getöteten.

Jeanette war dem jungen Mann nur einmal begegnet, doch seitdem war er für sie ein Held. „Er half mir auf einer Party, als zwei Jungs mich blöd anmachten“, erzählt sie. „Ich war so froh und wünschte mir, dass es auf der Welt mehr Menschen wie ihn gäbe.“ Als sie wenig später in den Nachrichten erfuhr, wie Jonny K. starb, setzte sie sich in den Zug nach Berlin, brachte Blumen an den Tatort und lernte Tina kennen. Seitdem kommt sie nach Berlin, so oft es ihr die Arbeit erlaubt, mindestens einmal im Monat. In Frankfurt verkauft sie für „I am Jonny“, den Verein, den Tina K. gegründet hat, T-Shirts und Pullover und sammelt Unterschriften für eine Gedenktafel, die an Jonny und die brutale Tat erinnern soll. Und daran, dass unsere Gesellschaft Zivilcourage braucht.

Ein kleines blondes Mädchen bleibt vor dem Pavillon stehen. „Was ist da passiert?“, fragt sie ihre Mutter. „Ein Jugendlicher ist hier gestorben, als er seinen Freund vor ein paar Schlägern retten wollte.“ Das kleine Mädchen blickt auf Jeanette, die die nächste Kerze anzündet, und dann auf eine Gruppe grölender Touristen, die vorbeizieht. „Macht das denn niemand kaputt?“ fragt es. „Nein“, antwortet die Mutter. „Das ist ein Ort der Trauer, den respektieren die Menschen.“

Am nächsten Morgen hat das Herz eine kleine Delle am rechten Rand. Es sieht aus, als hätte jemand mit dem Fuß dagegengetreten. Nur zwei der 50 Kerzen brennen noch. Immer wieder bleiben Menschen stehen. Manche bekreuzigen sich, murmeln „schrecklich“, und manche kaufen im Drogeriemarkt um die Ecke eine Kerze oder Blumen. Und irgendwann stellt ein junger Mann eine Friedhofskerze an die Stelle, wo das Herz eine Delle hat.

Später kommt ein zehnjähriger Junge aus Köln. Er ist mit seiner Familie zu Besuch in Berlin. „Mama, ich will auch eine Kerze für Jonny anzünden“, sagt er. Die Mutter starrt auf die Kerzen und antwortet: „Wenn du mal dabei sein solltest, wenn ein Freund oder ein Fremder von anderen angegriffen wird, dann ruf sofort die Polizei. Misch dich bloß nicht ein!“ Der Junge blickt ein wenig ängstlich zu seiner Mutter. „Du siehst ja, was passiert.“

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