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Psychisch Kranke: Einzelfallhelfer in Existenz bedroht

Psychisch Kranken hilft manchmal nur der Kontakt zu einem vertrauten Menschen. Einzelfallhelfer übernehmen diese Aufgabe. Unterbezahlt und oft allein gelassen, sind sie jetzt in ihrer Existenz bedroht – wenn die Politik nicht handelt.

Von Sandra Dassler

Schon als Mädchen wird Petra L. (Name geändert) vom Vater geschlagen. Mit 16 flüchtet sie zu einem Freund, der sie ebenfalls prügelt und bis ins Frauenhaus verfolgt. Sie hat Angstattacken, versucht, sich umzubringen. Dann lernt sie einen Mann kennen, der sie nicht schlägt – ihr aber verheimlicht, dass er HIV-positiv ist. Als Aids bei ihm ausbricht, ist sie schwanger, der Mann stirbt innerhalb weniger Wochen. Petra L. erfährt, dass er sie angesteckt hat, und bricht zusammen.

Ein Klinikaufenthalt hilft nicht, deshalb entscheidet der sozialpsychiatrische Dienst des Bezirksamts, Kirsten Wahl zu Petra L. zu schicken. Kirsten Wahl ist Einzelfallhelferin für psychisch Kranke, rund tausend gibt es in Berlin. Noch, muss man sagen, denn obwohl Einzelfallhelfer schlecht bezahlt werden, sind sie manchem immer noch zu teuer. Für den heutigen Freitag hat der neue Staatssekretär der Sozialverwaltung, Rainer-Maria Fritsch, zu einer Beratung eingeladen, denn bis Ende März soll der Senat über die Zukunft dieses in Deutschland einzigartigen Modells entscheiden.

Einzelfallhelfer kümmern sich um junge Erwachsene, die von ihren Familien so vernachlässigt wurden, dass sie nicht mehr reden, lachen, weinen können. Oder um Männer, die drohen, sich und andere zu verletzen. Oder um Frauen, die „religiöse Stimmen hören“.

„Früher wurden diese Menschen in Kliniken gebracht“, sagt Berlins Psychiatriebeauftragter Heinrich Beuscher. „Das System der Einzelfallhelfer, das so nur in Berlin existiert, ermöglicht ihnen ein weitgehend selbstbestimmtes Leben.“

So auch im Fall Petra L.: Ihre Einzelfallhelferin Kirsten Wahl sorgte nicht „nur“ dafür, dass der Alltag mit dem Baby funktionierte, sie hörte auch zu, wenn Petra L. von ihren Ängsten erzählte. „Irgendwann hat sie mir vertraut und begriffen, dass ich sie nicht im Stich lassen werde“, erzählt Kirsten Wahl. „Das hat sie gestärkt. Und ihr Baby war nicht HIV-positiv, das gab ihr zusätzlich Kraft.“

Es ist dieser enge, intensive Kontakt zwischen Einzelfallhelfer und Klienten, der das Modell so erfolgreich macht. Rund 2000 Berliner werden durch Einzelfallhelfer, meist Psychologen oder Sozialpädagogen, unterstützt. Das ergänzt das Modell des betreuten Wohnens nach dem Psychiatrieentwicklungsplan (PEP). Seelisch Behinderte haben einen Rechtsanspruch auf Hilfe, doch oft reichen die Angebote nicht oder es muss schnell gehandelt werden. Dann wird die Einzelfallhilfe eingesetzt – ein flexibles System, das aber im PEP nicht auftaucht und dadurch nur wenig bekannt sowie immer in Finanzierungsschwierigkeiten ist.

Während die Bezirke den Trägervereinen, die betreutes Wohnen anbieten, 46 Euro pro Stunde zahlen, beträgt das Stundenhonorar für Einzelfallhelfer zwischen 9 und 19 Euro. Davon müssen sie oft Weiterbildung, Supervision, Fahrtkosten, Versicherung und Steuern bezahlen. Umso größer war kürzlich die Entrüstung über einen Rundbrief der Sozialverwaltung, die ankündigte, die Zahl der von Einzelfallhelfern geleisteten Wochenstunden wegen des Verdachts auf Scheinselbstständigkeit auf 18 zu beschränken und 21 Prozent vom Honorar für eventuelle Rentenversicherung einzubehalten. „Von 18 Stunden kann keiner leben“, sagt Kirsten Wahl. „Wenn man alle Kosten abzieht, sind das real nicht mehr als fünf, sechs Euro. Das ist entwürdigend.“

Die Sozialverwaltung hat das Rundschreiben inzwischen zumindest bezüglich der 18 Stunden zurückgenommen. Alles andere, sagt Sprecherin Anja Wollny, werde intensiv geprüft. Dass das bisherige System der Einzelfallhilfe angesichts knapper Kassen einerseits und steigender Zahlen psychisch kranker Menschen andererseits verbessert werden müsse, stehe außer Frage.

Dabei geht es auch darum, dass es hinsichtlich der Qualifikation der Einzelfallhilfe keine verbindlichen Standards in den Bezirken gibt. Deshalb, und um dem Thema der Scheinselbstständigkeit zu entgehen, hat der Bezirk Tempelhof-Schöneberg schon 2001 ein Trägermodell gebildet. Nicht mehr direkt dem Bezirksamt angegliedert, konnten die Helfer hier nun in einen Träger integriert, unterstützt, kontrolliert und bezahlt werden.

Das Trägermodell wird von einem Gutachten der Katholischen Hochschule für Sozialwesen hoch gelobt, ist zunächst aber teurer als das Honoramodell. „Wir haben 2009 ein Defizit von 1,2 Millionen Euro“ sagt die grüne Sozial- und Gesundheitsstadträtin von Tempelhof-Schöneberg, Sibyll Klotz. „Wenn uns der Senat das nicht gegenfinanziert, müssen wir das Trägermodell aufgeben, auch wenn das ein Rückschritt wäre“. Nicht nur Klotz hofft auf eine positive Entscheidung des Senats, zumal es im Jugendbereich ein finanziertes Trägermodell für alle Bezirke gibt. „Warum kann man so etwas nicht auch für die schwierigere Klientel der psychisch Kranken einrichten?“, fragt Klotz. Angeblich schwebt eine Ausweitung des Modells auf ganz Berlin der Sozialverwaltung vor. Ob dem aber – bei knappen Kassen – auch die Finanzverwaltung zustimmt, hängt nun vom Engagement der Abgeordneten ab.

Viele Einzelfallhelfer möchten, dass es neben dem Trägermodell auch weiter ein – allerdings besser bezahltes – Honorarmodell gibt, weil man darin ihrer Ansicht nach unbürokratischer arbeiten kann.

Psychiatriebeauftragter Heinrich Beuscher will die Einzelfallhilfe unbedingt erhalten. „Inzwischen erlebt jeder dritte bis vierte Berliner einmal im Leben eine psychische Krise, die er nur durch professionelle Hilfe überwinden kann“, sagt er. Bei Einzelfallhelfern zu sparen würde letztlich nur die höheren Kosten für Klinikaufenthalte nach oben treiben.

Petra L. wäre ohne ihre Einzelfallhelferin längst in einer Klinik gelandet. Durch den engen Kontakt zu Kirsten Wahl ist sie sozial integriert und engagiert sich in der Aidshilfe. Aus einer Frau, die Hilfe benötigte, ist ein Mensch geworden, der anderen helfen kann. Sandra Dassler

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