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Nie war Schweigen im Kino so angesagt wie in diesem Jahr - zumindest auf der Leinwand. Der Stummfilm "The Artist" gilt als große Oscar-Hoffnung. Das Kinopublikum dagegen übt sich nicht so gerne in Schweigen, wie unser Autor festgestellt hat.

© dapd

Quatschen im Kino: Haltet doch mal die Klappe!

Auf der Leinwand geht die Welt unter – und die Zuschauer kriegen es vor lauter Quatschen nicht mit. Ein Sinnbild für den Zustand unserer Gesellschaft? Oder simple Unhöflichkeit? Ein Plädoyer für mehr Konzentration.

Es hätte ein so schöner Kinoabend werden können. Es lief „The Ides of March“ mit dem tollen George Clooney und dem noch viel großartigeren Ryan Gosling. Ein fabelhafter Film über das politische Amerika, so konnte man es in den Kritiken lesen. Doch schon in der Anfangsszene war der Wurm drin. Nicht etwa wegen der Schauspieler. Sondern wegen des Paares, das sich in letzter Sekunde auf die Plätze hinter mich gequetscht hatte und die Zweisamkeit im Kino nutzte, um Grundlegendes zu klären. „You want a beer?“ – die Besucher sprachen Englisch – „Hm, yes, maybe“ – „Should I get one?“ – „Hm, yes, may- be.“ So ging es in einem fort, den ganzen Film über. Am Ende hatte ich viel über die Befindlichkeiten junger Engländer erfahren. Zu den Iden des Märzes kann ich leider weniger sagen. Selbst auf Ryan Gosling kann man sich nur schwer konzentrieren, wenn man durch eine ständige Tonspur aus der Hinterreihe irritiert wird.

Für den Film hatten wir das Cinestar am Potsdamer Platz ausgewählt, und da kann man natürlich sagen: Selbst schuld. Das ist Multiplex at its best, da laufen die Hollywood-Blockbuster in Originalversion, da kommen fast nur noch Touristen hin. Die quatschen halt im Kino, auf Reisen lässt man Fünfe gerade sein. Immerhin ist es deutlich besser, als wenn sie in Hauseingänge pinkeln.

Aber so einfach ist die Sache leider nicht. Mal ganz davon abgesehen, dass es schwer ist, in anderen Kinos Berlins Hollywood-Blockbuster in Originalversion zu sehen: Das mit dem Quatschen kommt überall vor. Gerade Arthauskinos in vermeintlich hippen Gegenden, wie das Babylon in Kreuzberg oder das Rollberg in Neukölln, können gefährlich sein. Tritt hier doch der Typ „Wandelndes Filmlexikon“ in Aktion. Meistens ein Mann, der seine Begleitung beeindrucken will und gerne auf technische Finessen der Kameraführung hinweist. Selbst im Wisperton ist das enervierend, wie ein Ohrgeräusch, das nicht mehr weggeht.

Nicht dass man mich falsch versteht: Weinen, gerührtes Schnäuzen, lautes Lachen gehört im Kino unbedingt dazu. Große Kunst bedeutet schließlich große Emotionen. Aber die Dauerrede vom Nebenmann ist einfach unerträglich. Wenn ich ins Kino gehe, möchte ich einen Film sehen, anstatt Gesprächen unter wildfremden Paaren zu lauschen. Im klassischen Konzert käme schließlich auch kein Zuhörer auf die Idee, seine Flöte auszupacken und mit dem Orchester mitzuträllern.

Nur eine Sache bringt die Leute zum Schweigen: Sexszenen.

Nun gibt es schwatzhaftes Publikum, seitdem überhaupt irgendwer auf die Idee kam, etwas für andere aufzuführen. Das elisabethanische Publikum ließ sich so leicht ablenken, dass Shakespeare ein tolles Stück nach dem nächsten erfinden musste, um es bei Laune zu halten. Heutzutage reichen dafür aber selbst die tollsten Stücke nicht mehr aus. Oder kann irgendwer erklären, wie man ausgerechnet den atemberaubenden Auftakt in Lars von Triers Weltuntergangsdrama „Melancholia“ verplaudern kann, wie gerade erst erlebt? Hallo?! Da vorne auf der Leinwand geht gerade die Welt unter, und ihr kriegt das vor lauter Quatschen gar nicht mit?! Ich wäre glatt geneigt, das als Sinnbild für den Zustand unserer Gesellschaft zu nehmen.

Im Theater sind deutsche Klassiker unter der Woche eine Garantie für die gestörte Vorstellung. Neulich war ich so dumm, an einem Donnerstag „Herr Puntila und sein Knecht Matti“ im Deutschen Theater sehen zu wollen. Die Schulklasse hinter mir schaffte es, den Pausenschwatz von vier Monaten nachzuholen. Die Lehrkraft hatte sich sicherheitshalber woanders hingesetzt.

Man muss jetzt nicht gleich so weit gehen wie die alten Griechen. Wenn die ihre großen Festspiele abhielten, wachten Aufseher über das Publikum und hielten dieses notfalls „mit Stockhieben ruhig“, wie Platon berichtet. Doch den Redefluss stoppen zu wollen ist ein heikler Vorgang. Ungezieltes Zischen vielleicht? Im Zweifelsfall fühlt sich keiner angesprochen. Direktes Anreden? Ist gar nicht so einfach, wenn das Stück oder der Film erst mal laufen. „Würde es Ihnen etwas ausmachen, Ihr sicher anregendes Gespräch nach der Vorstellung fortzusetzen?“ – das versteht in der Situation sowieso keiner richtig. „Könnten Sie jetzt bitte endlich ruhig sein?“ – das provoziert erfahrungsgemäß Widerworte. „Halt Dir doch einfach ein Ohr zu“, entgegnete ein Sitznachbar mal, und sein abschätziger Tonfall bedeutete mir: Schäm dich, hier auf Saalpolizei zu machen.

Was auf jeden Fall hilft, ist Nacktheit der Darsteller. Nie war ein im Kinosaal stiller als während Patrice Chéreaus „Intimacy“, wo die beiden Hauptpersonen in der ersten halben Stunde praktisch nonstop Sex haben. Jede Hautunreinheit und -regung war zu sehen, das Publikum schwieg betroffen. Auch im Puntila wurden die Schüler ruhig, als Matti sich auszog. Leider durfte er seine Unterhose schnell wieder hochziehen.

Zugegeben, es gibt auch weniger entblößende Möglichkeiten. Die Berlinale steht vor der Tür. Dort ist das Publikum konzentrierter, wahrscheinlich, weil es ihm um die Sache (also den Film) und nicht um ein Date oder die Samstagabendunterhaltung geht. Sobald dort in einer Vorführung die ersten Takte des Berlinale-Trailers erklingen, herrscht Stille. Der Film kann beginnen.

Bei den alten Griechen wurde das Publikum notfalls mit Stockhieben ruhig gehalten, wie Platon schreibt.

Dieser Text erschien zunächst als Rant in unserer gedruckten Samstagsbeilage Mehr Berlin.

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