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Vielfalt unerwünscht. „Besorgte Eltern“ demonstrieren gegen „Übersexualisierung“ ihrer Kinder durch den Aufklärungsunterricht. Eine Studie der Soziologin Christin Sager zeigt, dass dies nicht nur ewiggestrig, sondern auch hochmodern ist.

© Daniel Reinhardt, picture alliance / dpa

Alte neue Tabus: Die Grenzen der Aufklärung

Der Blick auf Kindheit und Sexualität wandelt sich seit den 50ern stetig. Heute kehren alte Konzepte zurück.

„Besorgte Eltern“ machen gegen den Sexualkunde-Unterricht mobil. Die lose Querfront aus konservativer Elternschaft, rechten Verschwörungstheoretikern und homophoben Eiferern inszeniert sich als Gralshüter einer vom Staat bedrohten kindlichen Unschuld. Der Tenor des Wutbürgertums: Das eigentlich asexuelle Kind werde durch den Aufklärungsunterricht zwangssexualisiert, schlimmer noch, durch die alle natürlichen Unterschiede einebnende Gender-Theorie zu homosexuellem Verhalten erzogen. Mit vermeintlich harmlosen Parolen wie „Lasst die Kinder Kinder sein“ und „Kinder brauchen Liebe, keinen Sex“ demonstrierte man für das Konstrukt einer unbefleckt-unschuldigen Kindheit und gegen sexuelle Vielfalt im Allgemeinen.

Dabei hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) „sexuelle Rechte“, und damit auch das Recht auf die sexuelle Aufklärung von Kindern, 2002 zu einem Bestandteil der allgemeinen Menschenrechte erklärt.

Wie aber ist es um die Sexualität des Kindes in Wahrheit bestellt? Unterliegt ihre An- oder Abwesenheit nicht immer dem Zeitgeist? Ist es nicht eine erwachsene Zuschreibung, kindliche Handlungen als sexuell oder asexuell zu beschreiben? Kinder haben schließlich ihren eigenen Zungenschlag und verhandeln ihr Tun und Lassen nicht in „erwachsenen“ Begriffen.

Die Soziologin Christin Sager hat unlängst eine erhellende Studie publiziert, in der sie anhand der bundesrepublikanischen Sexualaufklärung von 1950 bis 2010 die Wandelbarkeit der Konzepte „Sexualität“, „Kindheit“ und „Familie“ beschreibt. Mit Foucaults Diskursanalyse als theoretischer Basis zeigt Sager, dass das Bild vom Kind keine übergeschichtliche Wahrheit besitzt. Auf welche Weise eine Gesellschaft von „Kindheit“ und „Sexualität“ handelt, ist eingebunden in die Wissensstruktur der Zeit, die ihrerseits durch die herrschenden Machtverhältnisse geprägt ist.

Die Aufklärungsschriften haben eine normierende Funktion

Christin Sager hat sich etliche Aufklärungsschriften vorgenommen, von denen sich viele an Familien und einige direkt an Kinder wenden. Dabei gräbt sie nicht nur nach den in den Quellen konservierten Konzepten kindlicher Sexualität, sondert fördert zugleich mentalitätsgeschichtliche Skizzen zutage.

Auch wenn sich die Diskurse von den repressiven 50er-Jahren über die sexuelle Revolution von ’68 bis heute vielfach gewandelt haben, sei die heterosexuelle Kleinfamilie noch immer das „Kristall des Sexualitätsdispositivs“.

Die Aufklärungsschriften haben Sager zufolge also eine klar normierende Funktion. Sie sind nicht bloß Ausdruck der jeweils herrschenden Diskurse. Sie schreiben diese ihrerseits fort, wirken mal explizit, mal subtil auf die Menschen ein und sind ein Instrument dessen, was Foucault einst als „Biomacht“ beschrieb. Eine Form der Macht nämlich, die sich direkt an die Körper wendet und dem Subjekt die gängigen Selbstkonzepte und gebotenen Verhaltensweisen in den Habitus prägt – auf dass es diese fortan selbst im Sinne der Macht kontrollieren und gegebenenfalls sanktionieren möge.

Im postfaschistischen Nachkriegsdeutschland lässt sich diese Normierung noch deutlich aus den Aufklärungsschriften herauslesen, schreibt Sager. So werde den Eltern zum einen suggeriert, die Kinder hätten überhaupt keine Sexualität. Diese befinde sich in einem Dornröschenschlaf und zeige sich erst mit der Pubertät. Zum anderen würden die Eltern im Rekurs auf den Anti-Onanie-Diskurs des 19. Jahrhunderts dazu angehalten, jede masturbatorische Handlung zu unterbinden. Dieser schiefe Blick auf das Kind ist also von Misstrauen und einer tiefen Ambivalenz geprägt.

Kinder sind unfertige Wesen, die gehorchen sollen

Das Familienbild, das bis in die 60er-Jahre lanciert wird, beruht noch auf einer unbedingten Rollenteilung. Kindererziehung ist Muttersache, Kinder selbst werden als unfertige Wesen gedacht, die zu gehorchen haben. Sex wiederum ist nur als hetero-genitaler Zeugungsakt im ehelichen Schlafzimmer gestattet.

Die Zeit zwischen 1963 und 1967 bezeichnet Christin Sager als Übergangsphase, in der die verschütteten Erkenntnisse der Psychoanalyse über Denker wie Theodor W. Adorno und Margarete Mitscherlich zurückkehrten. Im Anschluss an Sigmund Freuds psychosexuelles Entwicklungsmodell und seine Darstellung des sexuellen Grundtriebes emanzipierte sich der Sexualitätsbegriff nun von der Fortpflanzungsfunktion.

Im 21. Jahrhundert verschwindet kindliche Sexualität aus der Aufklärung

Freud hatte dem Kind eine autoerotische „polymorph-perverse“ Sexualität attestiert, die er von der erwachsenen, primär genital ausgerichteten Sexualität unterschieden hatte. Die Begriffe der Psychoanalyse lockerten das tradierte Tabu. Schriften wie Oswald Kolles „Dein Kind, das unbekannte Wesen“ gaben der Masse diesbezüglich Auskunft.

Die kindliche Sexualität wurde als "natürlich" romantisiert

Ab 1968 vollzog sich dann jener Paradigmenwechsel, den Habermas als „Fundamentalliberalisierung“ beschrieben hat. Die junge Generation definierte sich in Abgrenzung zu ihren Eltern und brach mit dem Konzept der bürgerlichen Kleinfamilie, deren autoritäre Ordnung sie als Keimzelle des Faschismus sah. Im Rekurs auf den Freudomarxisten Wilhelm Reich wurde eine freie Sexualentwicklung des Kindes als Voraussetzung einer antiautoritären Charakterstruktur begriffen. Ferner musste die sexuelle Revolution der sozialen und politischen vorausgehen.

Dieser emanzipatorische Ansatz habe dazu geführt, dass man die kindliche Sexualität als „natürlich“ romantisierte, schreibt Sager. Die Erwachsenen hätten ihren Wunsch nach sexueller Freiheit in die Kinder hineinprojiziert. Die Texte und Fotografien in den Aufklärungsschriften der Kinderladenbewegung gäben Auskunft darüber, wie kindliches Verhalten vielfach erst durch den erwachsenen Blick als sexuelle Praxis interpretiert worden sei. Dies hallt noch in den Pädophiliedebatten nach, mit denen sich die Grünen – als Leitfiguren der Kinderladenbewegung – heute herumschlagen müssen.

Der Fall Dutroux veränderte den Diskurs

In den 80er-Jahren sei die Aufbruchsstimmung dann allmählich zum Erliegen gekommen. Man realisierte, dass Sexualität auch Gewaltmomente hat, die sich häufig gegen Kinder richten, erklärt Sager. Mit dem Aufkommen von Aids nahm man ohnehin wieder stärker die Gefahren der sexuellen Sphäre in den Blick. Kinder und Jugendliche wurden nun allenthalben mit Warnungen vor einem unbedarften Gebrauch ihrer sexuellen Möglichkeiten bedacht. So platzierte sich der Aufklärungsdiskurs jener Jahre, wie Christin Sager resümiert, irgendwo zwischen wiederentdeckter Angst und den von ’68 übrig gebliebenen Lust-Fragmenten.

In den 90er-Jahren verstärkte sich das Moment der Prävention in der Sexualaufklärung noch. Der Fall Dutroux sei ein zentrales Ereignis auf dem Weg des diskursiven Wandels gewesen, schreibt Sager. Nach der Jahrtausendwende waren es die Missbrauchsskandale der katholischen Kirche und der Reformschulen, die deutlich machten, dass sexuelle Gewalt nicht bloß von Einzelpersonen, sondern auch in Institutionen verübt wird.

Zeugung, Schwangerschaft, Geburt - das ist der Fokus heute

Vor diesem Hintergrund sei es nicht verwunderlich, dass die kindliche Sexualität im 21. Jahrhundert aus den Aufklärungsschriften verschwindet. Kinder würden hier zwar nicht als gänzlich asexuell konstruiert. Der Fokus liege aber eindeutig auf den Momenten Zeugung, Schwangerschaft und Geburt, beobachtet Christin Sager. Dem Kind werde also eine rein heterosexuelle, reproduktive Erwachsenensexualität vermittelt – und das in der Regel anhand von Abbildungen weißer Mittelstandsfamilien mit angedeuteter Arbeitsteilung.

Laut Sager ist das „heteronormative Sexualitätsdispositiv“ in heutigen Aufklärungsschriften fest verankert. Die Kinder lernten, sich in einer binären Matrix zu verorten und ihre sexuellen Selbstbilder an vorgegebenen, scheinbar natürlichen Mustern zu orientieren. Die in den Büchern angesprochenen Eltern wiederum würden über etwaige sexuelle Äußerungen ihrer Kinder im Dunkeln gelassen. Die – freilich notwendige – Debatte um die sexualisierte Gewalt habe jene um die kindliche Sexualität verdrängt und schlussendlich ihre Re-Tabuisierung bewirkt, so das Fazit der Soziologin.

Die Position der "Besorgten Eltern" ist nicht ewiggestrig

Die Allergie der „Besorgten Eltern“ gegen jede Form von sexueller Aufklärung nährt sich demnach auch aus aktuellen Diskursen. Damit ist ihre Position nicht bloß ewiggestrig, sondern leider auch hochmodern. Nicht nur zu dieser Erkenntnis kann einem Sagers luzide geschriebene und umfassende Studie verhelfen. Ihre Mentalitätsgeschichte erfühlt den Puls der Bundesrepublik von ihren Anfängen bis heute. Anschaulich verdeutlicht sie den stets mit Machtverschiebungen einhergehenden Wandel der „Wahrheit“.

Die „Besorgten Eltern“ müssen also nicht das letzte Wort haben. Jedenfalls sollte man ihnen erklären, dass ein progressiver Aufklärungsunterricht, der die Vielfalt von möglichen Selbstkonzepten und Begehrensformen thematisiert, anstatt sie zu leugnen, gerade nicht zwangssexualisiert. Er kann vielmehr helfen, sich in Toleranz zu üben und in einer sexuell diversen Welt einen Platz zu finden.

Christin Sager: Das aufgeklärte Kind. Zur Geschichte der bundesrepublikanischen Sexualaufklärung. Transcript Verlag, Bielefeld, 2015. 348 Seiten, 34,99 Euro.

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