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Teilnehmer des Berliner Christopher Street Days im Jahr 2013.

© Imago

Flüchtlinge und Homosexualität: Der lange Arm der Tradition

Oft leben homosexuelle Syrer*innen auch in Deutschland versteckt – aus Angst vor der Reaktion ihrer Familien und ihrer arabischen Freunde.

Einige junge Syrer haben am Berliner Christopher Street Day teilgenommen. Auf der Regenbogenflagge, die sie hochhielten, stand in großen Buchstaben „Syrien“. Dies erregte die Aufmerksamkeit der deutschen Journalisten, aber auch syrischer Medien.

Eine syrische Webseite zeigte später das Foto und fragte hämisch: „Ist das die Freiheit, die ihr wollt?“ Darunter stand eine Reihe beleidigender Kommentare von Lesern aus Syrien, aber auch von Syrern in Deutschland. Sie gipfelten darin, dass einige Kommentatoren sich wünschten, diese Syrer sollten getötet werden – und dabei den syrischen Diktator Bashar al Assad und den russischen Präsidenten Wladimir Putin zu Hilfe riefen.

Queere Geflüchtete können hier nicht frei leben

Ich habe mich selbst oft gefragt: „Werden homosexuelle Syrer in Deutschland ihre sexuelle Identität frei leben können – ohne Angst vor Anfeindungen ihrer Herkunftsgesellschaften, ihrer Familien oder der anderen nach Deutschland geflüchteten Syrer?“ Die Antwort lautet offensichtlich: Nein.

Das ist nur der vorläufige Endpunkt einer kuriosen Entwicklung im Umgang mit dem Thema Homosexualität in Syrien. Gleichgeschlechtliche sexuelle Beziehungen waren ein absolutes Tabu. Weil Homosexualität gar nicht existieren durfte. Im Islam ist Homosexualität verboten und wird als Vorbote des Weltuntergangs beschrieben. Im Strafgesetzbuch, das aus dem Jahr 1949 stammt, Artikel 520, wird Homosexualität als „widernatürliche sexuelle Beziehung“ mit bis zu drei Jahren Gefängnis geahndet. Und in der orientalischen und islamischen Gesellschaft Syriens wird „Männlichkeit“ hochgehalten und Homosexualität als Abweichung von diesem Ideal gesehen.

In Damaskus konnte jeden Moment die Sittenpolizei kommen

So konnten sich Homosexuelle in Damaskus vor dem Krieg nur in privaten Häusern treffen. Und selbst dort waren sie in Gefahr: Die Sittenpolizei konnte jederzeit eingreifen. Denn obwohl das Regime sich immer als säkular darstellte, war islamisches Recht die Hauptquelle der Gesetzgebung – wie in der Präambel der syrischen Verfassung festgelegt. Die Festnahmen wurden entweder mit moralischen Vorwürfen wie „weibisches Verhalten“ oder mit politischen Vorwürfen wie „unerlaubte Zusammenkünfte“ gerechtfertigt.

Im Image-Wettbewerb zwischen dem syrischen Regime und islamistischen Gruppen wurde Homosexualität plötzlich zum Thema. Das Regime Assads fuhr eine Doppelstrategie: Einerseits wollte es den islamischen Klerus und die konservative Gesellschaft nicht verprellen, aber gleichzeitig wollte es eine gewisse Toleranz in dieser Frage vorführen als Beleg für seine vermeintlich freiheitliche Gesinnung. Damit sollte dem Westen gezeigt werden, dass der gemeinsame Feind die Islamisten seien. Die Islamisten wiederum griffen das Thema auf, um ihre menschenverachtenden Moralvorstellungen zu demonstrieren. Als der sogenannte Islamische Staat Ende 2013 die Stadt Rakka im Osten Syriens besetzte, wurden dort Homosexuelle – oder vermeintliche Homosexuelle – hingerichtet, indem sie von den Dächern hoher Häuser in den Tod gestoßen wurden.

Homosexualität gilt als "sexuelle Anomalie"

Dieser Widerspruch in der Politik des Regimes wurde offensichtlich bei einer großen Propagandaveranstaltung in Damaskus, die das Tourismusministerium organisierte: Beim „Marathon der Farben“ kamen Hunderte junger Leute auf einem der größten Plätze in Damaskus zusammen, um der Welt zu zeigen, wie bunt und heterogen die syrische Bevölkerung ist. Einige der Teilnehmer begannen, sich die Regenbogenfarben ins Gesicht zu malen. Dies führte in den sozialen Medien zu einem Aufschrei und der Frage: „Unterstützt das Regime nun Homosexualität?“ Definiert wurde diese als „sexuelle Anomalie“.

Das Regime ruderte zurück und produzierte erfundene Geschichten über junge Männer, die sich prostituieren. „Bande Homosexueller festgenommen, die Sex verkaufen“, titelten die Staatsmedien. Damit konnte das Regime nicht nur den Vorwurf kontern, es akzeptiere Homosexualität; gleichzeitig kriminalisierte es Homosexuelle.

Während der großen Fluchtbewegung 2013 hat das Büro des UN-Flüchtlingswerkes in Beirut zahlreiche Zeugenaussagen von homosexuellen Syrern aufgenommen, die vom Regime oder militanten islamistischen Gruppen festgenommen oder angegriffen wurden. Oft wurden sie auch Opfer von Todesdrohungen durch ihre eigenen Familien und Angehörigen. Das UNHCR erkannte die Fragilität dieser Gruppe an, und sie wurden als Kandidaten für die Umsiedlung in ein Drittland registriert. Viele von ihnen kamen nach Europa und Deutschland.

Oft heiraten Homosexuelle in Syrien auf Druck ihrer Familien

Doch selbst in Europa ist es für syrische Homosexuelle ausgesprochen schwierig, sich offen mit ihrer sexuellen Orientierung umzugehen. Ein Freund in Berlin berichtet, dass er hier einerseits sehr glücklich sei. Er könne in Nachtclubs gehen, seinen Freund auf der Straße küssen oder aber – von der Polizei beschützt – am Christopher Street Day teilnehmen. Allerdings traue er sich nicht, seiner Familie und seinen arabischen Freunden in Berlin von seiner sexuellen Orientierung zu erzählen.

Muhammad hat einen typischen Leidensweg hinter sich: Der 29-Jährige heiratete in Syrien – auch auf Druck seiner Familie –, um seine „Normalität“ unter Beweis zu stellen. 2014 kam der junge Mann, der heute in einem Berliner Krankenhaus arbeitet, nach Deutschland. Hier hätte Mohammad seine Sexualität eigentlich frei leben können. Doch nach eigenen Angaben blieb er gefangen in den Konventionen und Traditionen, in denen er aufgewachsen war. So glaubte er weiterhin, dass Homosexualität „unnormal“ sei und dass er kämpfen müsse, um darüber hinwegzukommen und ein „besserer“ Mensch zu werden.

Am Ende des Gesprächs räumt er ein, dass er in Syrien vor seiner Heirat drei Jahre lang eine geheime Beziehung zu einem Mann gehabt hatte: „Das waren meine glücklichsten Jahre“, sagt Muhammad heute. Nun leben er und andere homosexuelle Syrer plötzlich in einem Land, in dem sie neuerdings sogar einen anderen Mann heiraten könnten. Doch darüber denkt Muhammad nicht nach: „Die sozialen Medien erreichen heute jeden – ich muss Rücksicht nehmen auf meine Familie in Syrien, die alten Freunde, die Gemeinschaft.“

Der Autor Mustafa Ahmad Aldabbas ist 30 Jahre alt. Er kam 2015 von Syrien nach Deutschland und ist freier Journalist. Sein Text erschien zuerst in der Tagesspiegel-Sonderbeilage "Wir wählen Freiheit". Andrea Nüsse hat ihn aus dem Englischen übersetzt.

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