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Der US-amerikanische Autor, Künstler und Moderator io Tillett Wright, 32.

© Doris Spiekermann-Klaas

iO Tillett Wright im Gespräch: „Sichtbarkeit ist das wichtigste Werkzeug“

Der Autor, Künstler und Trans-Mann iO Tillett Wright über Genderrollen, Minderheiten, „MeToo“ – und sein Buch „Darling Days“.

Mister Tillett Wright, mit sechs Jahren begannen Sie, sich als Junge zu bezeichnen, obwohl Sie zuvor als Mädchen galten. Ihre Eltern haben das sofort akzeptiert und unterstützt. War Ihnen damals bewusst, wie ungewöhnlich das alles war?
Nein, überhaupt nicht. Denn ich kannte kein anderes Kind, das so war wie ich. Das hat gedauert bis ich etwa Mitte 20 war. Ich hatte keine Ahnung, wieso ich es tat und was die mögliche Reaktion sein konnte. Es war einfach der stärkste, organischste und ursprünglichste Drang, den ich spürte, um so leben zu können, wie ich wollte. Dass das für die Welt ein Problem sein könnte, habe ich erst später realisiert.

Wie lief das in der Schule? Benutzten die Lehrerinnen und Lehrer männliche Pronomen für Sie?
Manche machten es mir schwer, andere waren locker. Generell haben sie aber vermieden überhaupt Pronomen zu benutzen. Sie nannten mich einfach iO.

Sie hatten damals kaum Freunde. Wieso?
Ich konnte niemanden zu uns einladen. Meine alleinerziehende Mutter war ein Messie, es gab oft keinen Strom, ich hatte kein Spielzeug. Es war einfach keine Umgebung für eine Nachmittagsverabredung. Ich wurde auch selbst kaum eingeladen, was wohl daran lag, dass die Leute mich nicht einsortieren konnten und ich mich deshalb auch zurückzog. Außerdem fühlte ich mich in schönen Häusern unwohl, weil ich immer Löcher in den Socken hatte und keinen Pyjama für Übernachtungen. Ich wurde wie ein Wolfskind aufgezogen. Bis ich 12, 13 war, wusste ich nicht, wie man mit Messer und Gabel isst, und erst mit 16, wie man duscht. Das hatte nicht so sehr mit meinem Geschlecht zu tun, sondern mehr damit, dass ich von einem Alien erzogen wurde.

Mit 13 Jahren haben Sie per Gerichtsbeschluss erwirkt, bei Ihrem Vater leben zu dürfen, der als Künstler in Karlsruhe arbeitete. Das war ein großer Verrat für Ihre Mutter. Ihr Buch "Darling Days" ist es in gewisser Weise auch. Wie hat sie darauf reagiert?
Sie rief mich an und sagte: Du hast ein Meisterwerk geschrieben. Wow, dachte ich. Allerdings rief sie am nächsten Tag wieder an, um zu sagen: Aber ich war nie abhängig oder eine Alkoholikerin. Sie wollte, dass ich diverse Dinge ändere. Sowohl sie als auch mein Vater haben immer versucht, zu kontrollieren, wie die Geschichte erzählt wird. Wenn ich mit ihr über problematische Dinge aus meiner Kindheit reden wollte, habe ich oft zu hören bekommen, dass das so nie passiert sei. Meine Mutter war aber oft total betrunken und kann sich deshalb nicht erinnern. Ähnlich bei meinem Vater, der 18 Jahre lang heroinabhängig war. Meine Eltern haben diesen Stolz, dass sie nicht als Abhängige bezeichnet werden wollen, weil das für sie Leute sind die mit einer Whiskyflasche in der Gosse liegen.

Hat sich Ihre Mutter wieder beruhigt?
Vor etwa vier Monaten telefonierte ich mit meinem Vater, der mir erzählte, dass meine Mutter ihn weinend angerufen habe. Sie hatte mein Buch noch mal gelesen und sagte zu ihm: Alles ist wahr. Zum ersten Mal in meinem Leben erkennt sie das an. Das Verhältnis zu ihr ist allerdings momentan sehr schwierig, weil sie nicht akzeptiert, dass ich trans bin.

Jetzt ist es etwas anderes als damals?
Offenbar. Bisher war es immer so, dass sie bei allem, was sie versaut hat, zumindest in der einen wichtigen Frage – der Genderfrage – alles richtig gemacht hat. Jetzt nicht mehr. Sie nennt mich „sie“. Das hat einen Keil zwischen uns getrieben. Sie versteht es einfach nicht. Mein Vater fängt nach drei Jahren langsam an, zu begreifen, warum Pronomen wichtig sind. Kürzlich hat er mich beim Dinner „seinen Sohn“ genannt. Es dauert einfach eine Weile.

Sie selbst haben ja auch etwas Zeit gebraucht, um zu realisieren, dass Sie trans sind. In „Darling Days“ beschreiben Sie, wie Sie sich in der Pubertät entschlossen, wieder als Mädchen zu leben.
Ich war immer ein Außenseiter gewesen, der ständig etwas verbarg. Dann kam ich nach Deutschland zu meinem Vater, der dieses schöne Appartement hatte. Ich musste mich nicht mehr für mein Zuhause schämen, hatte die Chance auf ein neues, normales Sozialleben. Als die Pubertät kam, dachte ich, dass ich einfach mal versuche, ein Mädchen zu sein.

Wie lief das?
Es war total schrecklich. Wenn ich High Heels trug, fühlte ich mich wie eine Drag Queen. Dann dachte ich, dass ich vielleicht bisexuell bin, doch Sex mit Männern spielte nicht mal im selben Universum wie Sex mit Frauen. Also musste ich wohl lesbisch sein. Allerdings war es seltsam, wenn mich jemand als Mädchen oder „sie“ bezeichnete. Erst nachdem ich in einer Beziehung sehr in meiner Maskulinität bestärkt worden war und nach einem längeren Prozess der Infragestellung und Bewusstwerdung verstand ich es. Und das, obwohl ich mich immer als Mann gefühlt habe und trans aufgewachsen bin!

Fühlen Sie sich unter Druck gesetzt, eine Transition anzugehen?

Die meisten Leute assoziieren Trans mit Transition. Sogar Schwule und Lesben sagen oft Dinge wie: Und dann wurde sie ein Mann. Nein. Ich war die ganze Zeit ein Mann. Es ist eine biologische und emotionale Realität, dass mein Inneres nicht meinem Äußeren entspricht. Ein Zustand, den man nicht von außen erkennen kann. Ich werde aber nichts dafür tun, dass mein Transsein für jemand anderen mehr Sinn ergibt, ich bin es einfach.

Verglichen mit den Neunzigern, in denen Sie aufgewachsen sind: Hat sich etwas an den Genderrollen und -normen verändert?
Ja, komplett. Obwohl die Norm noch immer sehr binär ist, gibt es inzwischen einen riesigen Prozentsatz junger Leute mit abweichender Genderrepräsentation. Was nicht daran liegt, dass sie alle queer sind. Frauen benutzen heute Ausdrucksformen, die früher als typisch männlich wahrgenommen wurden, ohne dass es ihre Weiblichkeit beeinträchtigt. Umgekehrt können Männer sich empfindsamer verhalten, eine Therapie machen oder Frauen gut behandeln, was früher mit Schwäche assoziiert worden wäre. Wenn Jaden Smith in einer Modekampagne ein Kleid trägt, macht das großen Eindruck auf junge Leute. Ich bin der erste Trans-Mann in den USA, der eine Reality Show hostet. So was gab es früher nicht. Sichtbarkeit ist das wichtigste Werkzeug. Deshalb habe ich auch mein Buch geschrieben.

Für Sichtbarkeit sorgen Sie auch mit Ihrem Foto-Projekt „Self evident truths“, bei dem Sie nicht hundert Prozent heterosexuelle oder cisgender Amerikanerinnen und Amerikaner porträtieren. Was genau ist Ihr Ziel?
Das Ziel ist 10000 Porträts vor dem Washington Monument auszulegen. Ich habe bereits 9807 Menschen in allen 50 Staaten fotografiert. Damit möchte ich die Menschlichkeit einer Gruppe zeigen, die lange stigmatisiert und ausgegrenzt wurde. Ich will die Leute ermutigen, Menschen kennenzulernen, von denen sie denken, sie seien anders als sie. Außerdem möchte ich zeigen, dass wir nicht unbedingt viel gemeinsam haben, nur weil wir queer sind. Ich zucke immer ein bisschen zusammen bei dem Begriff Community. Caitlyn Jenner ist trans, aber wir sind trotzdem total verschieden. Wir bilden immer nur eine Gemeinschaft in Opposition zur Mehrheitsgesellschaft.

Derzeit gibt es einigen Grund für Opposition, denn Minderheiten erfahren derzeit viel Kritik. Ein Beispiel sind die All-Gender-Toiletten, die teilweise mit unglaublicher Vehemenz abgelehnt werden. Wie erklären Sie sich das?
Viele denken tatsächlich, dass ihre Kinder in Gefahr sind, denn es gibt kein öffentliches Verständnis dafür, was es bedeutet, trans zu sein – auch nicht in der queeren Community. Das Problem ist, dass es bisher kaum positive Trans-Vorbilder gibt, sieht man mal von der Schauspielerin Laverne Cox ab. Bisher dominierten Bilder von Prostituierten und Aidsopfern. Hinzu kommt, dass die mit Liberalismus und Gleichberechtigung verbundene Obama-Ära leider viele Leute befremdet hat. Es war zu viel für sie. Ihre Gegenreaktion ist: Sag mir nicht, wie ich zu sprechen habe, erzähl’ mir nichts von Safe Spaces, ich gebe dir keine Trigger-Warnungen. Das kann ich sogar nachvollziehen, denn die politisch korrekte queere Kultur macht einem oft ein schlechtes Gewissen.

Trumps Wahl wurde unter anderem damit erklärt, dass sich Hillary Clinton zu sehr um Minderheiten und zu wenig um unterprivilegierte Weiße gekümmert habe. Was halten Sie von dieser Argumentation?
Das ist absurd. Weiße versuchen immer, Minderheiten die Schuld zu geben. Dabei wurden sie lange schlecht behandelt – auch unter Obama. Es ist höchste Zeit, darüber zu reden. Trump ermutigt die Menschen allerdings, ihren Rassismus und ihre Homophobie offen auszudrücken. Sehr viele weiße Frauen haben Trump gewählt. Es ist nicht ihr Fehler, dass er im Amt ist. Aber dass sie über seine sexuellen Belästigungen hinweggesehen haben, deutet darauf hin, dass es ein Problem mit dem weiblichen Selbstwertgefühl gibt.

Das führt uns zur MeToo-Debatte. Auch Sie haben #MeToo auf Facebook gepostet.
Ich habe mich beteiligt, weil es wichtig ist, dass viele Menschen mitmachen und wir sehen, dass es nicht nur um Cis-Frauen geht. Die große Zahl der Betroffenen zeigt das Ausmaß des Sexismus-Problems.

Können Sie die Kritik von Catherine Deneuve nachvollziehen, die sagt, dass Männer ein Recht zur Belästigung hätten und Frauen sich schließlich wehren könnten?
Ich glaube nicht, dass sie übergriffige Männer verteidigen wollte, das wurde ein wenig missverstanden. Es ist aber kein guter Zeitpunkt für ein solches Statement. Man sollte den Leuten, denen schlimme Dinge angetan wurden, jetzt erst mal Zeit geben. Andererseits fürchte ich auch ein bisschen, dass es außer Kontrolle geraten könnte. Jemanden eines sexuellen Übergriffs zu bezichtigen, ist ein massiver Vorwurf, der ein Leben ruinieren kann. Deshalb muss damit sehr, sehr vorsichtig umgegangen werden.

Bringt die Kampagne in Ihren Augen denn etwas?
Ja! Harvey Weinstein ist im Exil. Das ist eine große Sache. Eine ganze Kultur wird infrage gestellt. So lange haben Frauen die Zähne zusammengebissen und nichts gesagt, weil sie ihre Jobs nicht gefährden wollten. Damit ist es jetzt endlich vorbei. Der ganze Diskurs hat sich verändert. Endlich! Wenn Titanen wie Weinstein und Co. fallen, sendet das auch eine Botschaft an Mädchen: Das kann passieren mit Männern, die die Grenzen anderer Menschen nicht beachten. Das bleibt in ihrem Unterbewusstsein präsent und bestärkt sie, wenn sie älter werden. Deshalb ist es immens wichtig, was gerade geschieht.

„Darling Days. Mein Leben zwischen den Geschlechtern“ , 436 S., 15,95 €). Lesung: 18.1., 20 Uhr, in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz.

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