zum Hauptinhalt
Das Podium bei der Diskussion im Osteuropa-Institut der FU.

© Eva Steinlein

Queer in der Ukraine, Russland und Weißrussland: Fehlerkinder und Euro-Optimisten

In der russischsprachigen Welt leben queere Menschen prekär – und finden kaum Hilfe. Auf einer Konferenz in Berlin schildern Aktivistinnen ihre Lage. Hoffnungsvolle Zeichen kommen allein aus der Ukraine.

Anna Scharygina ist ruhig und konzentriert. Obwohl sie eine der Rednerinnen bei der Podiumsdiskussion am Osteuropa-Institut der FU Berlin ist, hört die Aktivistin den anderen Gästen erst einmal aufmerksam zu. Sie blickt sie an, statt ins Publikum abzuschweifen, macht sich immer wieder Notizen. Als sie selbst über die Situation der Queer-community in der Ukraine spricht, bricht die Leidenschaft aus ihr heraus. Dann bewegen sich ihre Hände, sie gestikuliert, ihre Augen leuchten: „Ich glaube, dass wir auf dem richtigen Weg sind“, sagt sie.

LGBTI-Aktivistinnen sprechen an der FU Berlin

Das Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin hat am Montag Aktivistinnen aus Russland, der Ukraine und Weißrussland eingeladen, die Situation von LGBTQI in ihren Ländern vorzustellen. Knapp fünfzig Gasthörende sind gekommen, übersetzt wird simultan. Besonders gespannt sind sie auf Natalja Mankowskaja von der Minsker Menschenrechtsorganisation „Identitschnost“: Denn über ihr Land, das Kritiker „die letzte Diktatur Europas“ nennen, ist in Deutschland im Grunde wenig bekannt.

Die Lage in dem Staat, den seit 20 Jahren Präsident Lukaschenko regiert, beschreibt Mankowskaja als „konserviert“. „Ich erinnere mich schon nicht mehr an Freiheit“, sagt sie. Da ihre Organisation nicht staatlich registriert ist, könnten alle Aktivist_innen jederzeit zwei Jahre im Gefängnis landen. Die letzte Veranstaltung von „Identischnost“ dauerte 15 Minuten und fand in einem Park am Stadtrand statt. Das ist mehrere Jahre her. Derzeit lagern die meisten LGBTQI-Organisationen ihre öffentlichen Veranstaltungen in die EU-Nachbarstaaten Litauen und Polen aus. „Es stimmt, dass wir ein bisschen in den Schatten getreten sind. Aber wir kämpfen noch“, sagt Mankowskaja.

In Russland schreibt ein Gesetz gegen „Propaganda nichttraditioneller sexueller Beziehungen“ die Diskriminierung der Queer-Community fest: Seit 2013 müssen Medien und Menschenrechtsorganisationen die Situation schlicht totschweigen. Wer in der Öffentlichkeit positiv über LGBTQI-Menschen spricht, dem drohen eine Million Rubel Bußgeld (mehr über 14.000 Euro) oder ein dreimonatiges Moratorium aller Internet-Aktivitäten.

Die Bedeutung von Netzaktivismus wächst

In der Regel wird dadurch die Schließung der Organisation erzwungen. Umso größere Bedeutung gewinnt in Russland der Netzaktivismus. Die Gruppe „Deti 404“ von Hana Kotschetkowa gibt minderjährigen LGBTQI-Menschen im Internet Informationen und psychische Betreuung und vermittelt Kontakt zu registrierten Organisationen. „Wir sind die einzige russischsprachige Organisation, deren Zielgruppe Jugendliche sind“, sagt Kotschetkowa. „Daher suchen viele junge Leute auch aus den GUS-Staaten bei uns Hilfe.“ Der Name der Organisation spielt auf die Situation queerer Jugendlicher in der russischsprachigen Welt an: „404 not found“ lautet im Netz die Fehlermeldung für Inhalte, die nicht auffindbar sind. „Durch die Online-Solidarität können sie verstehen, dass sie nicht die einzigen ihrer Art sind“, erklärt Kotschetkowa.

 Der Konflikt in der Osturkaine dient als Totschlagargument

In der Ukraine sind die Aktivistinnen und Aktivisten schon einen Schritt aus dem Schatten getreten. Anna Scharygina hat in diesem Sommer den Kiew Pride organisiert, bei dem immerhin ein Marsch von 300 Aktivist_innen und Unterstützer_innen stattfand. Seit sich das Land dem europäischen Westen andient, sorgt Pragmatismus zumindest von staatlicher Seite für mehr Akzeptanz. „Eurooptimisten“ werden solche Politiker genannt. „Sie sagen: Wer wird euch denn diskriminieren? Wir fassen euch ja gar nicht an, aber den Rücken streicheln werden wir euch auch nicht“, beschreibt Scharygina die Situation. Aber auch in der Ukraine sind Rückschläge allgegenwärtig. Der Krieg im Osten des Landes dient als Totschlagargument, sich nicht mit den Rechten von Minderheiten zu befassen: „Dann heißt es: worüber reden wir hier? In unserem Land herrscht Krieg.“

 Ein Wohnheim für geflüchtete und verfolgte LGBTQI

Scharyginas Heimatstadt Charkiw liegt in dem Landkreis, der von Westen an das umkämpfte Gebiet grenzt. Sie hat in diesem Jahr in Charkiw ein Wohnheim für geflüchtete und verfolgte LGBTQI gegründet. „Ich bin nur eine lokale Aktivistin“, sagt Scharygina zwar, doch die Dimensionen ihrer Arbeit sind klar: Laut UNO-Flüchtlingshilfe sind in der Ukraine rund 800.000 Menschen aus dem Osten des Landes geflohen. Wie viele unter ihnen LGBTQI-Menschen sind, darüber gibt es keine Statistiken – schließlich sorgt im Westen des Landes der Einfluss der Kirche dafür, dass sie sich lieber nicht offenbaren.

Für Anna Scharygina selbst ist Emigration keine Lösung, auch wenn zwei einflussreiche ukrainische Aktivisten im Sommer diesen Weg gewählt haben. „Als ich beim Montreal Pride in Kanada zu Gast war und über die Situation in der Ukraine gesprochen habe, sagten viele: Warum wandert ihr nicht aus zu uns, hier ist doch alles besser?“, erzählt sie. „Aber wir können nicht alle weglaufen. Es ist besser, in seinem eigenen Land etwas zu verändern.“

Mehr LGBTI-Themen erscheinen auf dem Queerspiegel, dem queeren Blog des Tagesspiegels. Themenanregungen und Kritik gern im Kommentarbereich etwas weiter unten auf dieser Seite oder per Email an:queer@tagesspiegel.de. Twittern Sie mit unter dem Hashtag #Queerspiegel – zum Twitterfeed zum Queerspiegel geht es hier.

Eva Steinlein

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false