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Caitlyn Jenner auf dem Cover der Vanity Fair. Die 65-Jährige hieß früher Bruce Jenner und war 1976 Olympiasieger im Zehnkampf

© Reuters/Vanity Fair/Annie Leibovitz

Rasse, Geschlecht, sexuelle Orientierung: Wie viel Ungleichheit darf's noch sein?

Gleichheit, das hieß zunächst gleiche Rechte und Chancen. Inzwischen geht es auch um Gleichheit im Sein. Doch wie thematisiert man Ungleichheiten, wenn man die Begriffe verwirft, die diese Ungleichheit beschreiben? Ein Essay.

Ein Essay von Anna Sauerbrey

Hedwig ist ein schwarzer Mann. Seit Mitte dieser Woche steht Taye Diggs auf der Bühne des Belasco Theatre in der 44. Straße in New York und spielt die Rolle, die als die queerste des Broadway gilt. „Hedwig and the Angry Inch“, geschrieben 1998, erzählt die Lebensgeschichte der Sängerin einer amerikanischen Rock’n’Roll- Kombo. Die Geschichte geht so: Hedwig wurde als Hansel in Ostdeutschland geboren. Um das ummauerte Land verlassen und einen amerikanischen GI heiraten zu können, unterzieht sich Hansel einer Geschlechtsumwandlung.

Die läuft zwar nicht perfekt (ein „angry inch“ bleibt), aber Hansel entschließt sich dennoch, als Frau weiterzuleben, als Hedwig. Sie zieht in die USA, wird Musikerin und mehrfach betrogen und landet in einem Trailerpark. Das Stück ist tragisch und komisch zugleich und Kult in der Lesben-, Schwulen- und Transgenderszene von New York.

Viele bekannte Fernsehschauspieler haben die Rolle schon gespielt, jetzt also der erste Schwarze, Taye Diggs. Jungen weiblichen Serienjunkies in Deutschland ist er bekannt als Arzt aus „Grey’s Anatomy“ und „Private Practice“. Er ist abonniert auf die Rolle des soliden Supermanns.

Ein extrem gut aussehender, erfolgreicher schwarzer Hetero, der am Broadway eine extrem heruntergekommene weiße Transgender-Frau spielt, ist das normal? Ist das eine Geschichte? Das New York Times Magazine jedenfalls fand genügend Brüche und Widersprüche darin, um Hedwig/Taye Diggs einen opulenten Text zu widmen, geschrieben von dem schwarzen Schriftsteller und Journalisten James Hannaham, der Diggs mehrfach interviewte und bei den Proben beobachtete. In der Kommentarspalte auf der Online-Seite der New York Times allerdings wird das Porträt scharf kritisiert.

Viele der Kommentatoren meinen, der Text hebe zu stark hervor, dass Taye Diggs schwarz und hetero sei. „Lia“ schreibt, der Autor versuche einen aufregenden Widerspruch zwischen Diggs Hautfarbe und sexueller Orientierung und der Rolle zu erzeugen, wo keiner sei. „Scott“ aus Brooklyn schreibt: „Taye Diggs ist schwarz? Ja, das sieht man auf den Bildern. Seine sexuelle Orientierung ist irrelevant. (...) Ich finde diesen Artikel komplett rassistisch und beleidigend.“ Einem schwarzen Autor, der über eine queere Broadwayinszenierung schreibt, wird also Diskriminierung vorgeworfen, weil er die Kategorien „schwarz“ und „hetero“ überhaupt noch verwendet.

Das Symptom einer Krise der Gleichheitsgesellschaft

Man könnte das für ein typisch amerikanisches Phänomen halten, eine Diskussion aus einem Land, dessen Anti-Diskriminierungspolitik in Europa gern als hysterisch belächelt wird. Oder man sieht es probehalber so: Die Debatte ist das Symptom einer Krise der Gleichheitsgesellschaft, die sich auch in Deutschland schleichend bemerkbar macht. Die heiklen Fragen, die der Mini-Skandal aufwirft sind: Wie thematisiert man Ungleichheiten, wenn man die Begriffe verwirft, die diese Ungleichheiten beschreiben? Und wie beschreibt man sich selbst und andere, wie baut man sich eine Identität ohne Rückgriff auf Rasse, Geschlecht und sexuelle Orientierung?

Die Überwindung der Bedeutung von Geschlecht, Rasse und sexueller Orientierung für das soziale Leben ist eines der großen Fortschrittsprojekte des 21. Jahrhunderts. Die westlichen Gesellschaften sind dabei noch keineswegs am Ziel, aber schneller weiter gekommen als es in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts erwartbar war, als die Frauen-, Schwulen- und Bürgerrechtsbewegungen gegründet wurden. Gerade hat der Supreme Court der Vereinigten Staaten entschieden, dass auch gleichgeschlechtliche Paare das Recht haben zu heiraten. In Irland war dies das Ergebnis eines Referendums. In Amerika ist ein Schwarzer Präsident, in Deutschland eine Frau Kanzlerin. Es sind Leuchtturm-Urteile und Leuchtturm-Persönlichkeiten. Und dennoch: mehr Gleichheit war nie.

Frauen fühlen sich auf uralte Stereotype reduziert

Caitlyn Jenner auf dem Cover der Vanity Fair. Die 65-Jährige hieß früher Bruce Jenner und war 1976 Olympiasieger im Zehnkampf
Caitlyn Jenner auf dem Cover der Vanity Fair. Die 65-Jährige hieß früher Bruce Jenner und war 1976 Olympiasieger im Zehnkampf

© Reuters/Vanity Fair/Annie Leibovitz

Die Forderung nach Gleichheit bezieht sich zunächst auf gleiche Rechte und gleiche Chancen, doch die Postmoderne will mehr. Postmoderne Denker verlangen nicht die Angleichung der Chancen auf Geld, Macht und Raum – sondern streben die ontologische Gleichheit an, die Gleichheit im Sein. Aus der politischen Perspektive aber ist das ein Problem.

Der Texter und Komponist Stephen Trask, einer der beiden Autoren von „Hedwig“, sagt, Kernziel des Stückes sei es, das binäre Denken zu überwinden. Doch um das binäre Denken zu überwinden, muss man es zunächst darstellen und inszenieren – und das geht nicht ohne Rückgriff auf dieselben Kategorie, die dann wieder verstärkt und erinnert werden – in diesem Fall vom Rezensenten. Vor diesem Schleifen-Problem steht nicht nur die Kunst, sondern auch die Politik. Eine politische Sprache, die keine Männer und keine Frauen, keine Schwarzen und keine Weißen kennt, kann auch keine Forderungen formulieren, die sich auf Männer, Frauen, Schwarze oder Weiße beziehen.

Caitlyn Jenner, Ex-Supersportler und Trash- Ikone, hat das Zeug, zum glitzerigen Symbol für die Krise der Gleichheitsgesellschaft zu werden. Jenner hat in den vergangen Monaten viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Geboren als Bruce Jenner, outete sich die Olympiasiegerin im Zehnkampf im April in einem Fernsehinterview mit ABC als Transgender: „Ich bin eine Frau.“ In ihrem Gesicht war die plastische Chirurgie da schon deutlich zu sehen, Jenner hatte volle Lippen, eine schmalere Nase, trug aber kein Makeup und sagte, dies sei ihr letzter Auftritt als Bruce. Sie schwang den Kopf zurück und schüttelte ihr schulterlangen Haare, „God, I have to take this pony tail down.“

Im Juni dann erschien eine Ausgabe von Vanity Fair mit einem umfangreichen Porträt über Jenner und Fotos der Starfotografin Annie Leibovitz, es war der erste Auftritt von Caitlyn. Das Cover zeigt dasselbe Gesicht unter einem Berg ondulierter Haare, geschminkte Lippen, große Brüste, in ein weißes Mieder gezwängt. Die Welt brach in Sympathiebekundungen aus für dieses perfekt inszenierte Outing, standing ovations für soviel Mut.

Sich mit einem Außen identifizieren

Doch der Zuspruch war nicht einstimmig. In der New York Times zeigte sich Elinor Burkett, eine amerikanische Feministin, verärgert über das stereotype Frauenbild, mit dem Jenner spielt. „Mein Gehirn ist eher weiblich als männlich“, hatte Jenner im Fernsehinterview gesagt. Burkett gab wütend zurück: „Das ist die Sorte Unsinn, die jahrhundertelang genutzt wurde, um Frauen zu unterdrücken.“ Soviele Jahre habe sie dagegen gekämpft, dass Frauen auf uralte Stereotype reduziert würden, schreibt sie. Und jetzt das. Doch wie hätte Caitlyn Jenner ihr neues, altes Frau-Sein anders darstellen können? Als Meisterin der Trash-Inszenierung – seit Jahren ist Jenner Teil der Promi-Reality-Show „Keeping up with the Kardashians“ – musste sie sich im Grunde dieselbe Frage stellen wie die Regisseure des Broadway- Musicals Hedwig: Wie inszeniert man Zugehörigkeit zu einer Kategorie, deren Irrelevanz man gleichzeitig herbeiwünscht?

Diese Jenner-Frage berührt uns – in weniger greller Weise – alle. Faktisch bestimmen Hautfarbe und Geschlecht in den USA ebenso wie in Deutschland noch immer ganz wesentlich unser Leben: Wie viel wir verdienen, welche Berufe wir ergreifen, ja, sogar wann wir sterben. Das ist uns einerseits zuwider; das Ich ist komplex, und es ist eine frustrierende, oft auch verletzende Erfahrung, wenn Teile der eigenen Persönlichkeit von der Umwelt nicht wahrgenommen werden, keine Anwendung finden, weil sie nicht der Kategorie entsprechen, der man zugerechnet wird. Gleichzeitig aber erträgt der Mensch die innere Vielstimmigkeit nur, indem er sich mit einem Außen identifiziert.

Es braucht ein Gefühl der Einheit mit sich selbst

Caitlyn Jenner auf dem Cover der Vanity Fair. Die 65-Jährige hieß früher Bruce Jenner und war 1976 Olympiasieger im Zehnkampf
Caitlyn Jenner auf dem Cover der Vanity Fair. Die 65-Jährige hieß früher Bruce Jenner und war 1976 Olympiasieger im Zehnkampf

© Reuters/Vanity Fair/Annie Leibovitz

Natürlich gibt es sie, die rauschhaften Ist-Momente des Seins, in denen man, abgekoppelt vom Sozialen, ganz bei sich ist, irgendwo auf einem Berg, zum Beispiel, high vom Aufstieg, wenn der Atem an die Grenzen der Lunge stößt, nur Körper und Himmel und Abgrund. Doch in der Regel ist man ja unter Menschen, spielt eine Rolle und ist dabei eben so sehr Ich wie Ich-Reflex.

Der westliche Mensch des 21. Jahrhundert will mit dem ganzen Arsenal des Ichs spielen, mit der ganzen großen Kiste voller Playmobilfiguren: Heute Abend bin ich der zärtliche Vater, der das zahnende Baby aus der drückenden Hitze der Großstadtwohnung ins Freie trägt, es wiegt bis es Schlaf findet. Morgen früh bin ich der Büroleiter, der der schlampigen Aushilfskraft eiskalt erklärt, dass ihr Vertrag nicht erneuert wird: Heul nicht, bringt nichts. Und er braucht dennoch ein Gefühl von Koheränz über all diese Rollen hinweg, ein Gefühl der Einheit mit sich selbst.

Rasse, Geschlecht, sexuelle Orientierung: auch ein gemütlicher Zufluchtsort

Wird die Inkohärenz der vielen Ichs zu nervenaufreibend und die innere Sprengkraft zu groß, bieten Rasse, Geschlecht und sexuelle Orientierung einen archaischen, aber auf seltsame Weise auch gemütlichen Zufluchtsort. Der Grund, warum die Verwandlung von Bruce Jenner in Caitlyn Jenner so viel Aufmerksamkeit fand, liegt sicher auch in der extremen Reduktion von Komplexität. Mag sein, dass Jenners Identität, ihr Inneres, über Jahre auch für sie selbst bis zur Unkenntlichkeit verpixelt war. Die Bilder, die sie jetzt erzeugt, sind an Eindeutigkeit nicht zu überbieten: Eine Ikone der Männlichkeit wird zu einer Ikone der Weiblichkeit.

Manches spricht dafür, dass auch Rachel Dolezal auf der Suche nach einem Zufluchtsort war. Dolezal stand seit November 2014 der lokalen Organisation der „National Association for the Advancement of Colored People“ in Spokane vor, einer mittelgroßen Stadt im US-Bundesstaat Washington. Als sie sich um einen Platz in einem Gremium bewarb, das Fälle von Polizei-Diskriminierung bearbeitet, gab sie auf dem Bewerbungsbogen nach Informationen der dortigen Lokalzeitung „The Press“ an, sie gehöre „mehreren Rassen“ an, konkret kreuzte sie „weiß“, „Native American“ und „afro-amerikanisch“ an. Sie hatte einen Lehrauftrag für Afrikanische Kultur an der Eastern Washington University. Im Februar 2015 lud sie ein Foto auf ihre Facebook-Seite hoch, das sie mit einem jüngeren und einem älteren schwarzen Mann zeigt, die sie als ihren Vater und ihren Sohn ausgibt.

Im Juni 2015 dann wandten sich ihre richtigen Eltern an die lokale Presse. Ruthanne und Lawrence Dolezal sind beide weiß. Kindheitsfotos zeigen Rachel Dolezal als blondes Mädchen mit Sommersprossen. Die Empörung, besonders in der schwarzen Community, war groß. Etwa einen Monat, nachdem ihre Eltern ihre Herkunft öffentlich gemacht hatten, besuchte eine Reporterin Dolezal. Rachel Dolezal bleibt dabei, dass ihre Identität schwarz sei. „Das ist kein Kostüm“, sagte sie der Reporterin. Sie habe „ein Bewusstsein und eine Verbindung zu schwarzen Erfahrungen“. „Ich hatte meine Jahre der Verwirrtheit, ich habe mich gefragt, wer ich wirklich bin und wie ich leben soll und wie ich einen Sinn in all dem sehe, aber all das verwirrt mich nicht mehr. Die Welt mag das verwirrend finde – für mich ist es das nicht.“ Auch Rasse, sagt sie, sei doch nur ein soziales Konstrukt.

Rachel Dolezals Fall mag seine pathologischen Seiten haben, doch in gewisser Weise zeigt er auch, dass Rasse dem Ich eine Heimat bieten kann. Nach Bekanntwerden des Falls schrieb der Journalist Jonathan Blanks in der Washington Post: „Die breite Gemeinschaft, aus der die schwarze Identität entspringt, ist etwas Wertvolles – trotz ihrer Wurzeln in der Sklaverei, in der Segregation und in der Ausbeutung. Ein Gefühl der Verwandtschaft treibt viele von uns an, Heilmittel für diese alten und anhaltenden Ungerechtigkeiten zu suchen (…).“ Gerade die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die systematisch benachteiligt ist, kann diese Heimatgefühl hervorrufen, nach dem sich Dolezal vielleicht sehnte. Wir wollen dass Diskriminierung und Bedrohung aufhören. Und dennoch gibt es auch diese Wahrheit: Man definiert sich auch über die Narben vom Schlachtfeld der alltäglichen sozialen Kämpfe.

Ab diesem Sonntagabend wird Caitlyn Jenner in der Doku-Serie „I am Cait“ auf dem amerikanischen Kabelsender „E!“ zu sehen sein. Der Trailer zeigt, wie sie sich schminkt und wie sie am Steuer eines Autos das Grundstück ihrer Villa in Malibu verlässt. „Wäre es nicht großartig, wenn wir eines Tages normal wären“, sagt sie. „Du bist normal“, sagt die Stimme der begleitenden Journalistin. „Sagen wir es so“, antwortet Jenner. „I can do normal – Ich weiß, wie normal geht.“ Normal sein als Schauspiel, als Inszenierung; vielleicht ist das das neue Normal. Wahrscheinlicher aber ist, dass die Gleichheitsgesellschaft mit sich selbst überfordert ist.

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