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Evangelischer Luisen-Friedhof in Charlottenburg, Guerickestraße 5-9.

© Doris Spiekermann-Klaas

Berlin: Rainer Martens (Geb. 1954)

Ich mein's ernst diesmal, heirate mich

In dem Zimmer im Krankenhaus Havelhöhe ist es still geworden. Viele Monate hat Rainer gekämpft, ist verzweifelt, hat wieder gekämpft. Nun, wo er das Ende spürt, schließt er Frieden mit dem Tod.

Seine Freundin kann die Ruhe nicht aushalten. Sie hält seine Hand und redet. Es gibt so viele Geschichten, die noch einmal erzählt werden müssen: Wie sie ihn zum ersten Mal gesehen hat. Er stand als DJ hinter den Plattenspielern einer alternativen Disko in Dithmarschen, gegründet von ihm und Freunden. Sie fand ihn cool. Verliebt aber hat er sich. An dem Abend allerdings, an dem er sie endlich ansprechen wollte, küsste sie ein anderer.

Sie zählt Stationen seines Weges auf: Kraftfahrer, das gemeinsame Haus mit seiner Freundin Jo, die Trennung und der Hausverkauf, Rangierleiter am Bahnhof in Hamburg. Ein schwerer Autounfall mit seiner Ente. Die Rehabilitation. Der Wunsch, etwas anderes zu machen. Die Erzieherfachschule und das Fachabi. Dann die Jugendarbeit.

Seine Freundin erzählt, dass ihn seine Jugendlichen bestimmt nie vergessen werden. Wie gut er als Sozialarbeiter war. Dass er Verständnis hatte, weil er noch wusste, wie es war, jung zu sein, weil er Freiheit liebte und autoritäres Gehabe hasste. Sie erzählt von seinem Umzug nach Berlin, gleich nach dem Mauerfall. Von seiner Arbeit beim Bühnenbau. Wie seine Augen leuchteten, als er sich an die Generalprobe von Pink Floyds „The Wall“ erinnert. Er ganz vorn dabei. Dann die Zeit als Sozialarbeiter. Betreutes Einzelwohnen, Jugendliche, die dort besser dran waren als in ihren Familien. Nebenher das Sozialpädagogikstudium.

Und dann der Tag, als sie sich nach 15 Jahren in einem Kreuzberger Café trafen und sie ihn ansprach: „He, du bist doch Rainer, der DJ aus der Kate.“ Dass auch er ihren Namen noch kannte, verblüffte sie.

Jetzt sitzt sie an seinem Krankenbett und erzählt ihm, dass sie das nicht gedacht hätte: Er und sie. Seit 15 Jahren. Sie erinnert ihn an seine Abschiedsparty, als er mit Jugendlichen nach Teneriffa startete, seine fast schon dreiste Einladung auf die Insel, als ihr in Berlin alles zu viel wurde. Wie sie ihn dort plötzlich mit anderen Augen sah, weil sein Interesse so echt blieb, weil er so behutsam hinter ihre Fassade schaute.

Sie erzählt ihm von der Wohnung, die sie viel später zusammen bewohnt haben: 120 renovierungsbedürftige Quadratmeter in Nord-Neukölln. Platz genug für Rainers Plattensammlung, die auf die 1000 zuwuchs. Platz genug für seine Computer und natürlich für seinen großen Fernseher, vor dem er Akte X und Star Trek verfolgte oder die Wetterfee anhimmelte.

Fernsehen, gutes Essen und die Harley – unverzichtbar für die Entspannung. Seine Freundin erzählt von den Abenden in der Küche, den Kochgelagen, den Diskussionen bis zum Hahnenschrei. Sie erzählt von einem Freund, der über Rainer sagte: Er hat das Schweigen zur Kunstform entwickelt. Und dann sagt er einen Satz, der völlig abwegig klingt, und nachher merkst du – verdammt, der Rainer hat recht.

Seine Freundin erzählt auch traurige Geschichten: Rainer war noch in der Grundschule, als seine jüngere Schwester aus den Ferien bei Tante und Onkel nicht mehr zurückkam. Die Eltern hatten sie dem kinderlosen Paar gelassen. Das verstörte Rainer sehr, der selbst noch Kind war. Er gab vor allem dem Vater die Schuld, einem autoritären Malermeister, der gerne Karten spielte, Sportflugzeuge flog und feierte. Seine Mutter hingegen blieb für Rainer die Liebe- und Verständnisvolle.

Bitter auch der Autounfall in den Achtzigern: Rainer verlor bei Glatteis die Kontrolle über sein Auto. Sein Freund stürzte durch die Heckscheibe und brach sich das Genick. Am selben Abend die Überreaktion: Rainer feiert mit Freunden eine wilde Party, schminkt sich und tanzt bis in den Morgen.

Zuletzt die kräftezehrenden Krankheiten und die Kämpfe: Erst Polyneuropathie, dann Lungenkrebs. Die Krankenkasse, die Medikamente nicht bezahlen will, die neue Chefin, die Leute entlässt, die Chemotherapie, die in Rainers Körper eine Schlacht entfacht. Er kämpft verbissen, lässt sich in die Mitarbeitervertretung wählen, um Kollegen und sich zu helfen, verliert aber doch den Job und fürchtete sich vor der Armut. Der Stress belastet die Beziehung. Manchmal ruft Rainer traurig seine Schwester an: Warum kann ich nicht so sein wie früher, ausgeglichen und gelassen?

Seine Freundin erzählt ihm von seinem letzten Plan: Die nächste Chemo durchstehen und dann zurück nach Dithmarschen, einen Kajak-Verleih an der Eider eröffnen.

Schließlich erzählt sie von dem alten Spiel der beiden: den regelmäßigen Heiratsanträgen, den der andere dann ablehnt. Rainer sieht sie an: Heirate mich. – Du spinnst doch. – Ich mein’s ernst diesmal, heirate mich. Sag Ja. – Ja, sagt sie leise. – Lauter! – Du musst aber auch Ja sagen. – Ja. Und noch mal du! – Ja!

Es wird kurz still.

Wein doch nicht. – Ich bin ein großes Mädchen, ich schaff das schon.

Rainer nickt und schließt die Augen.

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