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Berlin: Rainer Zachmann (Geb. 1941)

Im Gästezimmer ein schmales Bett, Trainingsanzüge, Boxhandschuhe.

In seine Wohnung in der Uhlandstraße, vierter Stock, fuhr er im alten Aufzug mit den wundervollen Jugendstil-Ornamenten. Seine Zimmer sind jetzt unbewohnt, aber alles ist noch genau so wie zu Zachmanns Lebzeiten. Von der Decke des langen Flurs hängt ein üppiger Kunstblumenstrauß. Die Küche ist sauber und junggesellenhaft. Im Gästezimmer finden sich ein schmales Bett, eine große Auswahl an Trainingsanzügen und Boxhandschuhen und noch mehr Pokale.

Im Arbeitszimmer steht, wie in jedem anderen Zimmer, ein Fernseher. Außerdem ein mannshohes Drehgestell mit Dutzenden von Aktenordnern. Die wenigsten haben mit dem Beruf des Richters zu tun, den Rainer Zachmann 37 Jahre lang ausübte. In den meisten geht es um den Boxverein Hertha BSC, dessen Erster Vorsitzender Rainer Zachmann von 1983 bis zu seinem Tod gewesen ist.

Er besaß einen Bus mit acht Sitzen, mit dem er die Boxer zu den Kämpfen fuhr, „seine Jungs“, die er in allen Lebenslagen beriet, und die bei ihm übernachten konnten, wenn sie wollten. Ein Mitglied des Vereins sagte: „Herr Zachmann ist der Verein.“

Im Arbeitszimmer: Fotos von BSC-Boxern, junge Männer mit angespannten Wangenmuskeln und ängstlichem Blick. Daneben hängen Fotos von Zachmanns Eltern und ihm selbst als Mann Anfang dreißig: klein, schwarzhaarig, mit Schnurrbart und Lederjacke, im Arm seinen Basset Wolf-Dietrich.

Mehr noch als die anderen Zimmer strahlt das Wohnzimmer etwas Großelternhaftes aus: an der Stuckdecke ein üppiger Leuchter, die Biedermeiermöbel, große Sofas. Hier möchte man Kakao mit Sahne aus edlem Porzellan trinken.

Rainer Zachmann hat oft Besuch empfangen. Sein Freundes- und Bekanntenkreis war groß. Auch in der Familie war das Nesthäkchen der wichtigste Ansprechpartner, ein Zuhörer, Schlichter und ruhender Pol mit ausgeprägtem Gerechtigkeitssinn und hintergründigem Humor. Nie hat er die Contenance verloren.

Schon früh interessierte er sich für Sport, ohne je selbst Sport zu treiben. Statt mit den anderen Kindern auf dem Bolzplatz zu spielen, klebte er Briefmarken ins Sammelalbum oder las. Als Heranwachsender ärgerte er seinen Vater, indem er beharrlich die Bild-Zeitung las, selbst wenn ihm dieser auf einer Italienfahrt eine besonders schöne Landschaft zeigen wollte. Der Vater war Journalist, leitete das Ostbüro der SPD und schließlich das Landesamt für Verfassungsschutz.

Bleibt noch das Schlafzimmer: Darin steht ein wenig bequem aussehendes Doppelbett, umringt von Regalen voller Videobänder, mehr als 1000 Stück, sauber etikettiert. Die Filme hat er für seinen Ruhestand aufgenommen. Gesehen hat er sie nie. Je älter er wurde, desto mehr Termine, Interessen und Bekannte hatte Zachmann. Zwei-, dreimal im Jahr besuchte er einen Freund in Istanbul. Manchmal klingelte das Telefon mitten in der Nacht – den Nachtmenschen Zachmann störte das nicht. Jeder konnte sich ihm anvertrauen, Tag und Nacht. Unbekannt ist, wem er sich anvertraute.

Am 26. April erlitt er auf der Straße einen Herzinfarkt. Nach 14 Tagen im Koma erwachte er und erkannte weder Familienangehörige noch Freunde. Ein zweiter Infarkt beendete am 17. Juni sein Leben. Anselm Neft

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