zum Hauptinhalt

Reading BERLIN: Seite 42

An jeder Ecke sieht man Menschen,die in Büchern lesen. Andreas Merkelfragt sie, was darin gerade passiert

An einem eigentlich normalen Mittwochmittag glaubte ich dem heiteren Himmel nicht mehr, sondern erlag der Gehirnwäsche der Gewittermeldungen aus dem Radio. Plötzlich schien sicher, dass dies der letzte Tag des Sommers war. Ich dachte nur noch in Slogans: Make the most of now. Auch wenn das für den zu schreibenden Roman bedeutete: Make the most of later.

Kurz darauf fand ich mich am Weißen See wieder, an dem so schön die Tram vorbeifährt und der mit seinem alten Strandbad wie aus der Zeit gefallen zu sein scheint. Am letzten schönen Tag wollte ich eine schöne Leserin fotografieren. (Dazu fiel mir ein Zitat des Philosophen Hans Blumenberg ein: Dass Bücher fettarschig und kurzsichtig machten, und über die staubige Luft der Bibliotheken, die Unlust oder Panik, ein Leben in ihnen verbringen zu müssen.)

Als Erstes fragte ich ein hübsches Mädchen, das genervt von ihrem Buch aufblickte. Entschuldigung, ich mache eine Serie über Lesen in Berlin ... – „Oh nein, da hab ich heute echt keine Lust drauf!“ Sie sagte es mit der Routine von jemandem, der vermutlich oft angesprochen wird. Ich merkte auch, wie unpassend es war, einen nur halb bekleideten Menschen anzusprechen, wenn man selbst angezogen war.

Ich ging erst mal schwimmen und sprach die nächste Leserin dann etwas entspannter, aber nur unwesentlich seriöser, weil nunmehr selbst in Badehose, an. Die Frau lag sehr schön mit Tattoo, Sonnenbrille und Roger Willemsen auf einem Handtuch in der Sonne. Mit der Idee, mir einen Satz aus „Die Enden der Welt“ zu verraten und sich fotografieren zu lassen, war sie umgehend einverstanden. Weil ich den See mit draufhaben wollte, wurde es ein eher diskretes Foto: Wenn man nicht genau hinguckt, könnte man sogar denken, die schöne Frau sei ein Mann. Gut so.

Dann warnte sie mich. Der Satz, den sie gerade gelesen habe, sei lang. „Wenn du willst, kannst du dir einen kürzeren aussuchen.“ Ich sagte, lange Sätze finde ich hervorragend. Dann schrieb ich mir in aller Ruhe, Handtuch über der Schulter, halb im Liegen, Roger Willemsens Satz von Seite 42 unten bis Seite 43 oben ab: „Manchmal, wenn ich einsam bin oder den Arm einer nicht mehr jungen oder vertrauten Frau um mich wünsche, dann sehe ich so ein Ehepaar, das vielleicht seit zehn oder zwanzig Jahren zusammen ist, und ihre Blicke sind nicht mal kalt oder ernüchtert, sondern interesselos.“

Sicherheitshalber sagte mir die Frau noch, dass sie das Buch von ihrem Partner habe, der bei einem Vortrag von Roger Willemsen gewesen wäre. Er habe es ihr daraufhin begeistert zum Lesen gegeben. Bisher fände sie es ganz okay. Ich bedankte mich und setzte mich zum Trocknen auf eine Parkbank, trank einen Eiskaffee, rauchte eine American Spirit und ließ mich von den Mücken stechen. Zufrieden hielt ich das Ende des Sommers fest.

Andreas Merkel

Zur Startseite