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Reading BERLIN: Seite 94

An jeder Ecke sieht man Menschen,die in Büchern lesen. Andreas Merkelfragt sie, was darin gerade passiert

„Wenn ich mir meiner Schreibkunst nicht vollkommen sicher wäre und meiner großartigen Fähigkeit, Gedanken mit unglaublicher Eleganz und Leibhaftigkeit ...“ So, mehr oder weniger, wollte ich beginnen, mein Glück zu beschreiben, als ich auf meinen ersten Nabokov-Leser stieß. Das geschah an einem goldenen Spätsommer- oder Frühherbstnachmittag auf der Frankfurter Allee, wo die Magistrale mit ihren Zuckerbäckerbauten am russischsten wirkt.

Im Licht der osteuropäischen Sonne saßen die Leser zu Dutzenden nebeneinander. Es zog mich an attraktiv bebuchten Damen vorbei zu meinem Leser: mit Schiebermütze und Hund. Bingo! Obschon ich von Vladimir Nabokov nur „Lolita“ und „Verzweiflung“ gelesen hatte (letzterem Roman entstammt das Anfangszitat dieser Kolumne), hatten mich schon diese Werke überzeugt. Es war die Meisterschaft des großen Schmetterlingsfängers (und Torwarts!), die mich verleitete, mir die Lektüre weiterer Romane „für später“ aufzuheben – so, wie man beim Essen die delikatesten Köstlichkeiten an den Rand schiebt, um die Vorfreude zu erhöhen (und ohne die Gefahr zu bedenken, sich in der Zwischenzeit an Minderwertigem satt zu essen).

Von den „Durchsichtigen Dingen“, dem Buch, das der Mann las, hatte ich noch nie gehört. Es war ein altes rororo-Taschenbuch, gut erhalten, mit angenehm nachgedunkelten Seiten. Einige Stellen waren angestrichen, ob vom Leser selbst, vergaß ich über meiner Begeisterung zu fragen (ich ließ mir nichts anmerken). Das Buch habe er auf dem Boxi gekauft, Ecke Krossener Straße gebe es einen guten Händler, der die Bücher noch nicht zu Kilopreisen verkloppe. Der Leser trug eine Kappe, wie sie Nabokov selbst getragen haben könnte, als er in den 20ern in der russischen Exil-Enklave Charlottenburg gelebt und nebenher als Tennistrainer gearbeitet hatte. Ich schrieb den Satz auf, der auf einer Friedrichshainer Bank des Jahres 2011 gelesen wurde, Seite 94 unten:

„Hugh war nie einer so gemeinen Launenhaftigkeit, einer so morbiden Eigenliebe, einem so egozentrischen Charakter begegnet.“ Der Hundehalter – zwischendurch sprang seine Dogge (?) auf und rannte davon, kam zurück und legte sich brav wieder hin – hatte mir den Satz diktiert und dabei „Hugh“ wie „Huck“ ausgesprochen. Wir sprachen ein bisschen über Nabokovs Stil, den wir beide hervorragend fanden – auch wenn das Wording sicher etwas veraltet und eigentümlich sei, wie mein Leser sagte. Der Mann hatte tatsächlich „Wording“ gesagt. Auf eine so ruhige, selbstverständliche Art, als müsste er sich extra für mich so ausdrücken. Als würde ich das sonst nicht kapieren, oder als wollte er mich auch ein klein wenig verarschen. Für mich war das kein Problem. Ich wusste: In der Literatur ist es oft nur ein schmaler Grad zwischen König und Clown. Und ich wusste auch:

Hugh war ein anderer.

Andreas Merkel

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