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Alles meins. Einen Monat etwa braucht Atilay Ünal, bis er einen solchen Berg „Folie, transparent“ aus den Abfällen Berlins herausgelöst hat.

© Xiomara Bender

Recycling in Berlin: Der Müllionär von Moabit

Erst folgt Atilay Ünal einem Mann, der Kartons aus einem Supermarkt abtransportiert. Dann schmeißt er seinen Job am Flughafen und schafft sein privates Wirtschaftswunder. Von einem, der sich nicht zu schade ist.

Seine Freunde waren lange der Meinung, dass dieser Aufstieg ein Abstieg sei. Warum sonst nimmt Atilay Ünal das gute Geld, das er 20 Jahre lang am Flughafen Tegel als Verantwortlicher auf dem Flugfeld verdient hat und steckt es in einen schäbigen Schuppen, eine Müllpresse, Laster und diverse Gabelstapler! Warum tauscht er einen Arbeitsplatz, der nach Kerosin und damit nach der weiten Welt riecht, gegen einen, der nach Diesel und damit nach Dienstleistung dünstet? Ganz zu schweigen vom süßlichen Geruch fermentierender Abfälle. Zu allem Überfluss beginnt das neue Leben auch noch zu nachtschlafender Zeit.

Es ist ein Dienstag, im frühdunklen Dunst um fünf. Rechts „Reparaturen aller Art“. Links oben jaulen die Laster, bevor sie über die Dehnungsfuge der Putlitzbrücke donnern. Ein ausgebrannter Kleinwagen rottet darunter, dessentwegen die Polizei am Zaun des Wertstoffhofes um Mithilfe bittet: Zeugen gesucht. Vermehrte Brandstiftung in Moabit seit Oktober. Außerdem ein Schild: „Giftköder ausgelegt.“

Es ist eine 1a-Lage. Alle, die vom Fruchthof kommen und Schöneberg, Neukölln oder Wedding beliefern, müssen hier vorbei. Können ihren Müll gleich hier entsorgen. Haben Atilay Ünal zum Erfolg verholfen.

Da taucht die gutmütige Silhouette Marinas aus dem Dunkel auf, die rechte Hand des Chefs. Sie dreht den Schlüssel im Tor. Schon springt auch der Rest des Chefs aus seinem BMW, tritt durch den Eingang, an dem vorne „Taifun Wertstoffhandel“ steht. Es ist der Spitzname, den ihm seine Großmutter in der Türkei verlieh, als er ein kleiner Junge war. „Du bist wie ein Taifun“, hatte seine Oma damals gesagt. „Manchmal bringst du Unheil.“

Kraftvoll klingt das. Und unberechenbar.

„Passt doch.“

Der magische Ort Amerikas ist die Garage. Dort entsteht aus einer genialen Idee der Keim für ein weltumspannendes Imperium. Der Mythos der Deutschen handelt von einem allumfassenden Trümmerhaufen, den das ganze Land nach dem letzten Krieg gemeinsam bestieg. Selbst Kinder sammelten Schrott und verkauften, wofür es Geld gab. Kein Nagel war zu klein und man selbst sich für nichts zu schade. Worauf diese Haltung dann geradezu zwangsläufig zu einem Wirtschaftswunder führte.

Wertstoffhof. Aus diesem Haufen müssen Holz und Pappe getrennt werden. Rechts im Bild: das Förderband zur Presse.
Wertstoffhof. Aus diesem Haufen müssen Holz und Pappe getrennt werden. Rechts im Bild: das Förderband zur Presse.

© Xiomara Bender

Aus dem Nichts etwas zu machen, das ist die Erzählung einer ganzen Nation. Sie funktioniert offenbar noch. In Berlin. Für Atilay Ünal, der in seinem ganz privaten Wirtschaftswunder nun ein Dutzend Leute beschäftigt.

Er streift den Fliegenvorhang beiseite, öffnet die Tür zu einem fensterlosen Raum, ausgelegt mit Teppichen, bestückt mit zwei orange-beigefarbenen Sofas. Der Lichtstrahl fällt auf ein weiches Gesicht, 44 Jahre alt. Über einem riesigen Schreibtisch hängt ein viergeteilter Bildschirm, auf dem er den ganzen Tag aus seinem Büro die Bewegungen draußen auf dem Hof verfolgen kann. Auf dem Weg zur Kaffeemaschine schlägt er nun einen Bogen um seine glänzend polierte 1200er-Kawasaki, die direkt vor dem Schreibtisch parkt.

Den Abfall holt niemand einfach so. Dafür muss es Geld geben

„Frierst Du?“ Ünal schaltet die Bauheizung ein, die sofort gehorsam losbrüllt, stellt sich selbst vor das kniehohe Loch in der Wand, aus dem die heiße Luft pustet, in der Hand den Kaffeebecher. Braunes Plastik, sortenrein.

Der Spott über das Müll trennende Deutschland ist längst international. Die Bewunderung aber auch. Die Claims sind abgesteckt in diesem Riesengeschäft, es handelt sich um ein geschmeidig ineinandergreifendes Geflecht zuständiger Stellen. 2012 fielen 1.481.000 Tonnen Siedlungsabfälle an im Land Berlin, davon 149.000 Tonnen Geschäftsmüll. Ünal sagt trotzdem: „Ich habe eine Marktlücke gefunden.“ Er hat sich aus dem Berliner Kuchen seinen tonnenschweren Anteil herausgeschnitten, der beständig größer wird. Sollte da bei aller internationalen Professionalisierung der Branche noch Platz für einen wild entschlossenen Privatmann sein?

Auf 2500 Quadratmetern schräg unter der Brücke zum Westhafen, nicht weit vom Fruchthof, sind unter dem Brüllen von Dieselmotoren, dem Sirren einer Presse, den Rufen der Angestellten, dem Splitterknacken von Holz, Gebirge in Bewegung. Ständig im Entstehen und Vergehen. Gebirge, die sich tagelang aufschichten und wieder verschwinden. Landschaften. Ansichten. Panoramen. Perspektiven, die gestern noch zu sehen waren, sind heute schon wieder verschwunden.

Alles beginnt, als Atilay Ünal, da ist er Mitte dreißig, 2006 auf einem Moabiter Edeka-Parkplatz zum ersten Mal den Kitzel spürt. Er beobachtet einen alten Mann, der den Pappmüll des Supermarkts in Bündeln wegwuchtet und in sein Auto hievt. Das macht keiner einfach so, denkt Ünal. Die sind doch viel zu schwer für den. Da muss es was für geben. Und fährt ihm hinterher bis zu der Firma, wo der Mann seine Pappen tatsächlich gegen Geld tauscht.

Ünal ist elektrisiert. Er hat das Gefühl, einen Schatz entdeckt zu haben. Er kehrt zum Supermarkt zurück und bietet an, von nun an regelmäßig dessen Kartons zu entsorgen. Er sammelt, bis er die ersten 94 Kilo beisammen hat, fährt zur Annahmestelle, deren Adresse er auch heute nicht verrät, und bekommt zehn Euro. – Für nichts!

Den Recycling-Markt mit seinen Bezeichnungen für Wertstoffe – B19 für Pappe und Kartonagen – lernt er erst später kennen. Den Markt, auf dem die Preise schwanken „wie die für Rohöl“. Auch Wertschöpfung ist eine Schöpfung, aber auch dieses letzte Ende der Kette ist kein Paradies. Konkurrenten werden stramm bekämpft. Es ist ebenfalls viel später, dass ihm jemand Zucker in den Tank seines Lasters schüttet. Ihm eine kaputte Müllpresse andreht. All das ist später. Ünal, nicht erfahren, aber entschlossen, wird jeden Fehler einmal selber machen müssen, weil einem so etwas niemand erzählt. Weil keiner ein Interesse daran hat, dass Ünal keine Fehler macht. Dass er groß wird.

Zunächst hat Atilay Ünal quasi aus nichts Gold gemacht. Es ist die Alchemie der Städte, Müll der faszinierende Ausgangsstoff. Dieser Rohstoff liegt einfach rum. Besser noch: Die Leute wollen ihn sich vom Hals halten. Sie zahlen sogar dafür.

Ünal mietet zwei Räume unter den S-Bahn-Bögen in Moabit, wo er die Pappen lagert, erweitert dann auf einen Gewerbehof, auf den auch ein Laster passt, und entscheidet sich schließlich, unter dem Eindruck seiner erfolgsgekrönten 16-Stunden-Tage, für den großen Platz unter der Putlitzbrücke. Seine beiden Söhne sieht er kaum noch, „das ist der Preis“.

Eine Marge ist eine Marge ist eine Marge

Blech zu Gold. Gepresste Dosen auf Atilay Ünals Wertstoffhof.
Blech zu Gold. Gepresste Dosen auf Atilay Ünals Wertstoffhof.

© Xiomara Bender

Unkraut heißt jetzt „Wildkräuter“, Abfälle heißen „Wertstoffe“. Längst beschäftigen sich die Eliten mit dem Thema. Veranstalten Kongresse auf der ganzen Welt, prüfen die Eigenschaften von Granulat aus recyceltem Material. Produkte werden in Lebenszyklen betrachtet, Kreisläufe sind attraktiver als Einbahnstraßen. Ingenieure tüfteln an Autos, die sich am Ende wieder sortenrein trennen lassen.

Obwohl beim Müll meist das Trennende betont wird, verbindet das Thema Kontinente. Und sei es nur, dass der Haushaltsmüll aus Spanien an der französischen Atlantikküste angespült wird. Dass der Giftmüll aus den reichen Ländern in den armen entsorgt wird. Oder dass deutsche Plastikfolien als Rohstoff für Kleidung nach China verschifft werden.

Der Öko-Slogan „Jute statt Plastik“ wurde einst belächelt. Recycling ist längst Big Business.

Atilay Ünal arbeitet an der Basis dieser Entwicklung. Da, wo das Geld auf der Straße liegt. Aus den Transportern, die zuvor vom Fruchthof kommend Supermärkte oder Restaurants beliefert haben und nun unablässig in die Tore rollen, stürzen palettenweise Kartons und Holzkistchen. Berlin übergibt sich. Übergibt seine Reste an Ünal. Mit gezieltem Schwung lassen die Mitarbeiter die Holzstiegen fliegen. Ein ganzer Wirbel rückwärts kreiselnder, dabei nach vorne fliegender Spankistchen legt sich an einer Ecke brav zu einem Häufchen zusammen.

Der Chef füllt für über 3000 Euro im Monat Diesel in die Tanks von Hubwagen, Lkws, einem Press-Lkw, Gabelstaplern, Klammergablern und solchen mit Drehfunktion, um alles in Bewegung zu halten. Die Müllmassen werden zusammengepresst, zu Paketen zwischen 450 und 550 Kilo, und mit Sattelschleppern abgeholt. Ünals Mitarbeiter – und wenn nötig, er selbst – ziehen die Folie vom Gemüse, trennen Plastikkanister von öligen Blechdosen, werfen bunte und transparente Folie in getrennte Boxen.

Zugleich aber zerbricht sich Ünal, der Analyst, den Kopf darüber, welche Abhängigkeiten und Gesetzmäßigkeiten es rentabel scheinen lassen, dass Container mit benutzter Plastikfolie bis nach China verschifft werden, als hätten sie dort nicht selbst genug davon. Ein Teil der Rechnung ist, dass dort Plastik als Rohstoff gilt: „Hast du Spandex-Klamotten? Da ist das drin.“ Ein anderer Teil ist der, dass Containerschiffe, die Ware aus China herbringen, nicht leer zurückfahren sollen.

„Wenn man das verstanden hat, wird man Millionär“, sagt Ünal. „Ich habe es noch nicht verstanden, aber ich bin auf einem guten Weg.“

Die ganze Palette. Etwa ein Dutzend Mitarbeiter sortieren für Atilay Ünal die Abfälle der Großstadt.
Die ganze Palette. Etwa ein Dutzend Mitarbeiter sortieren für Atilay Ünal die Abfälle der Großstadt.

© Xiomara Bender

„Die Walze“, ruft Ünal. Endlich muss einer die Walze anstellen, die das Holz im Container zusammendrückt. Ein dorniger Arm kragt über dem Holzcontainer und presst zu. Das Splitterknacken könnte einen Dinosaurier-Film untermalen. Ob die Walze jetzt ein Kilo oder zehn Tonnen in den Container quetscht, das kostet gleich viel.

Es ist die Walze, die Ünals Marge herauspresst.

"Was ist für dich viel?“ fragt Ünal. „Sag' mal eine Zahl."

Ünal springt auf den Klammergabler. Kraftvoll lenkt er ihn in die Pappen hinein, bis sie bald auf Höhe der Flutlichtlampe aufwogen. Die Presse drückt mit der Kraft von 70 Tonnen zu. Wer reinfällt, ist tot. Sie presst mit einem sirrenden Geräusch unendlich langsam eine verdrahtete Kartonwurst hinten raus.

Man könnte sagen, dies ist die Kehrseite Berlins, aber Kalauer dieser Art sind alle orange, und sofort denkt Berlin an seinen großen, städtischen Entsorger, auf den Ünal nicht so gut zu sprechen ist, so wie auf alle Großen der Branche. „Die Großen“ – er sagt immer nur, „die Großen“ – die ganz andere Mittel haben, um Konkurrenten aus dem Markt zu drängen. Bei den Privathaushalten genießen sie eine Monopolstellung zum Abtransport der Schätze. Sogar das Trennen haben sie – „ein Komplott!“ – an Bürger delegiert.

Aber Ünal, der zu Hause seinen Müll nicht trennt, ist von ganz anderem Kaliber. BSR. Alba. Bartscherer. Mögen die anderen größer sein, er ist flexibler. Er fährt auch für Mini-Margen, die die anderen nicht interessieren. Bei manchen Stoffen springen nur drei Cent pro Kilo raus. Ist das viel?

„Was ist für dich viel?“ fragt Ünal. „Sag’ mal eine Zahl.“

Eine Marge ist eine Marge ist eine Marge.

Das Besondere hier ist nicht die Höhe, sondern die Häufigkeit. Die Tatsache, dass die Marge so stetig anfällt.

Diese minimalen Beträge addierten sich innerhalb von acht Jahren derart, dass Ünal eine 150.000-Euro-Presse kaufen konnte. Sein Prunkstück hat Ünal hinter der Wand des Schuppens versteckt, damit die Nachbarn möglichst wenig von dem Geräusch mitkriegen. Was stinkt, lässt er alle zwei Tage abholen. Bevor die Menschen, die auf der anderen Seite der Quitzowstraße wohnen, von ihm die Nase voll haben.

Atilay Ünal „war immer zwei in Mathe“. Aber das hier war dann doch nicht abzusehen. Wie er ständig rechnet, vergleicht, einpreist und berücksichtigt. Fixkosten, Deckungsbeiträge, Mitarbeiter, Stellflächen, Diesel. Die Zahlen flackern in seinem Kopf, jederzeit parat.

Er könnte zum Beispiel auch Styropor getrennt sammeln, aber bis er eine verkäufliche Einheit zusammen hat, vergeht ein Jahr. Seine Miete für die benötigten Lager-Quadratmeter wäre höher als der Erlös. Das war’s dann mit Styropor. Jeden Tag entscheidet er aufs Neue, ob er Holz trennt oder entsorgt. Sein Geld verdient er hier eigentlich weniger mit den Dingen, sondern mit deren ständiger Bewegung. Mit Wiegen, werfen, sortieren, pressen, herumfahren.

So ist der Mann Teil des ausgeklügelten Verdauungsapparates Berlins geworden. Der Peristaltik der Hauptstadt, deren Essensgewohnheiten und Moden sich in der Form ihres Abfalls in seinen Hof ergießen. Eine Ahnung beschleicht einen, was passiert, wenn dieses Organ einmal versagt und die Massen, die mit der Kraft einer Naturgewalt hereinfluten, nicht mehr aufzuhalten sind.

Einen einzigen Tag lang ist einmal die Presse ausgefallen. „Da konnte ich meinen Schuppen nicht mehr sehen.“

Ein Leben auf eigene Kappe

Wertschöpfung. Der Gewinn hängt davon ab, wie sorgfältig die Mitarbeiter die Stoffe trennen. Violetta arbeitet inzwischen nicht mehr für Atilay Ünal.
Wertschöpfung. Der Gewinn hängt davon ab, wie sorgfältig die Mitarbeiter die Stoffe trennen. Violetta arbeitet inzwischen nicht mehr für Atilay Ünal.

© Xiomara Bender

Nicht, dass er in seinem Leben viel geplant hätte. Doch Entscheidungen getroffen hat er immer. Nach der Schule in Moabit wählte er eine Ausbildung zum Universal-Schleifer im Mercedes-Werk in Marienfelde. Tagsüber schliff er Kurbelwellen, abends boxte er, Weltergewichtsklasse, 63 bis 67 Kilo. Als er sich zum zweiten Mal den Mittelhandknochen brach, sagte der Ausbilder: Boxen oder Ausbildung. Also Ausbildung.

Er wurde übernommen, nur um den Sohn des Personalers einzuarbeiten, der ihn dann ersetzte. Da fing er als Kofferträger am Flughafen Tegel an und brachte es bis zum „Ramp-Agent“. Auf dem Rollfeld verantwortlich für einen kompletten Abflug: Ünal rechnete aus, wie viel Kerosin ein Flieger brauchte, gab etwas dazu, prüfte die Beladung, das Gewicht. Es ging um Minuten, jede Verspätung potenzierte sich in Verlusten für die Fluggesellschaft. 20 Jahre hat er insgesamt am Flughafen gearbeitet, „zum Urlaub einmal im Jahr Türkei, einmal Übersee“. Wahrscheinlich blieb er auch deshalb so lange auf seinem Posten, weil er in dieser Zeit nur drei Mal zu spät gekommen ist.

Das Heftchen, das er jetzt griffbereit aus der Schreibtischschublade zieht, listet auf, was er in dieser Zeit zu fahren gelernt hat: eigentlich alles, mit Ausnahme der Flugzeuge. Das Förderband. Elephant-Gamma, ein Enteisungsfahrzeug. Den Highloader. Den Kabinenheizer. Den Elektroschlepper. Die Passagiertreppe.

Das Ineinandergreifen von Bedingungen, die Pünktlichkeit, die Präzision, das Verständnis von Maschinen, die Arbeit rund um die Uhr, eine Idee davon, wie Menschen funktionieren. Alles das ist auch auf einen Wertstoffhof anwendbar.

Marina, Ünals rechte Hand, huscht ins Büro und ist schon wieder draußen. „Sie ist ehrlich.“ Und das sei auch schon ihre wertvollste Eigenschaft.

Seit sie da ist, ist der Diebstahl um 90 Prozent zurückgegangen. Der Diebstahl durch die eigenen Leute wohlgemerkt. Angenommen, es kommen 200 Transporter am Tag. Jeder Fahrer versteckt einen Sack kostenpflichtigen Müll unter seinen Kartons, die er umsonst abgeben kann und drückt dem Mitarbeiter, der das deckt, zwei Euro in die Hand... Ünal schätzt, dass er im Monat um 5000 Euro beklaut wurde.

Damals hat er auch die Kameras installiert, die ihm vier Bilder ins Büro schicken. Die beiden Tore, das Förderband, die Waage. Und was sollte er anderes tun als lachen, als er dann auf dem Bildschirm sah, wie eine Mitarbeiterin, „eine Frau von Welt“, sich einen Schein in den BH stopfte?

Ünal regt das gar nicht sonderlich auf. Es ist ja so. Ünal analysiert. Und lernt. Er lernt, misstrauisch zu werden, wenn ein Abnehmer, erkennbar rechts, ihm sagt: Du bist mein Lieblingstürke.

Er lernt auch, wen er einstellen sollte. „Von der Art, wie jemand sich bewegt, kann ich sagen, ob er ein Arbeiter-Typ ist, oder ob er hier Zeit absitzen will.“

Er muss das alles im Blick haben. Die Marge und ihr Verlust sitzen überall. Ünal musste jeden Fehler einmal selber machen, um zu lernen. Er kaufte eine erste Müllpresse gebraucht, die niemals lief. Wohl nie gelaufen ist. „So ein Idiot. Jetzt bin ich größer und hätte bei ihm eine neue gekauft.“

Ünal weiß, am Anfang bist du klein, da lächeln alle. Wieso machst du denn so was? Sie sehen nichts darin. Dann wird einer größer, und dann kommt der Neid.

Er rechnet sich aus, was im schlimmsten Fall passieren kann

Vielleicht ist es gar nicht so schlecht, dass das Alleinsein für ihn nichts Neues war. Geboren in Wasserlos, in Bayern an der Grenze zu Hessen, ist er dann, bis er 15 war, bei seinen Großeltern in der Türkei aufgewachsen. Wenn sowieso jemand Fremdes auf das Kind aufpasst, dann lieber die.

Sowieso?

„Erste Generation. Ein Kindergartenplatz kostete so viel, wie ein Arbeiter verdient. Das ist die Ausrede von denen.“

Denen, das sind die Eltern, die in Fabriken arbeiteten. Ünal war ja gerne bei seinen Großeltern, aber ein bisschen gekränkt ist er trotzdem noch.

Vielleicht ist das Alleineseinkönnen im Kapitalismus ja eine ganz gute Eigenschaft. Da kämpft jeder für sich? In Moabit sitzt einer, der ist gar nicht überrascht.

Zuletzt ging ein Fehlkauf auf sein Konto. „Ich dachte, das wäre ein Schredder.“ Ünal hatte gehofft, damit die Holzstiegen häckseln zu können. „Aber weißt du, was das war?“ Ein Aktenvernichter, wie aus dem Bundesinnenministerium, „höchste Sicherheitsstufe“. Der arbeitet mit Wasser und liefert am Ende Brei.

Nee, sagt Ünal, als meinen ersten Fehlkauf behalte ich den. Sozusagen historischer Wert. Und wer sagt denn, dass ich nicht einmal in die Branche gehe? Anwaltskanzleien, Ärzte, vertrauliches Material. Die Akten wollen vernichtet werden. „Mein Geschäft,“ sagt Ünal, „ist wie ein Puzzle.“

Damals beim Flughafen, sagt Ünal, da war nichts schlecht. Aber irgendwann saß er doch dort und fragte sich selbst: Hast du jemals etwas gewagt? „Du warst immer ein moderner Sklave“, hielt er sich vor. „Du hältst morgens deine Chipkarte vor den Piepser und gehörst denen.“

Atilay Ünal wollte ein Leben auf eigene Kappe.

Seitdem hält er es so: Er rechnet sich bei jeder Bewegung aus, was im schlimmsten Fall passieren kann. Das ist ja im seltensten Fall ein Totalverlust. Das Motorrad im Büro zum Beispiel: Im schlimmsten Fall verkauft er es für 2000 Euro weniger. „Ich kann mein Brot durch Stein verdienen“, sagt Ünal. Und: „Wenn die Mafia wüsste, wie viel Geld mit Müll zu verdienen ist, würde sie Drogenhandel und Prostitution sein lassen.“

Tatsächlich hat die Mafia diesen Zweig ja längst entdeckt und ist im Gewerbe prominent vertreten. Die Idee, aus dem Müll der anderen ein Imperium aufzubauen, damit sein eigenes Glück zu machen, ist ein Menschheitstraum. Er zieht überall non-konforme Leute an. Glücksritter.

Da ist der exzentrische, erst 46-jährige Chinese Chen Guangbiao, der mit dem Recycling von Bauschutt zu einem von Chinas Supperreichen geworden ist und nun als schriller Wohltäter durch die Welt reist. Als solcher verköstigt er in New York Obdachlose und verkauft im luftverschmutzten Peking Luft in Dosen.

Zuletzt las man in der „SZ“ von dem karibischen Biologen Janti Ramagi, den die Tourismusbehörde damit beauftragte, die überall herumliegenden, stinkenden und Fliegen anziehenden Gehäuse der beliebten Conch-Schnecke von den Stränden zu beseitigen. Er sammelte drei Tonnen und häufte sie vor ein Riff, bis er eine eigene Insel zusammen hatte. Darauf pflanzte er eine Palme und eröffnete eine Bar, in die jetzt Segler einkehren. Das Selfmade-Paradies nennt er „Happy Island“.

"Ich ernähre zwölf von deiner Sorte"

Neue Perspektive. Die meisten Mitarbeiter entdecken den Hof von der Putlitzbrücke aus und fragen am Zaun nach Arbeit.
Neue Perspektive. Die meisten Mitarbeiter entdecken den Hof von der Putlitzbrücke aus und fragen am Zaun nach Arbeit.

© Xiomara Bender

Ünal muss seinen Mitarbeitern den Reiz des Modells erst erklären. Und alles muss man besser können als sie! „Stapler fahren, Müll trennen, Pappe kippen, Kisten werfen.“ Nur dann gibt es Respekt. „Sie müssen wissen, ich sitze hier in meinem Büro, aber wenn es drauf ankommt, kann ich es besser als sie alle zusammen.“

Manchmal spult er für sie sein Videoband zurück. Zeigt ihnen, wie sie da rumstehen. „Kannst du das mit deinem Gewissen vereinbaren?“ Mehr braucht es gar nicht.

Oder er ruft sie zusammen, damit sie alle eine Pause machen. Schenkt eine Runde Kaffee aus, verteilt sogar Zigaretten. Langsam fängt er dabei selbst an, eine Holzbox gemischten Gewerbemülls zu trennen. Die Plastikkanister in eine Kiste. Die Metalldosen in eine andere. Folie transparent. Folie bunt. Alles ganz langsam. Und es dauert nur ein Drittel der Zeit, die seine Mitarbeiter vorher gebraucht haben.

„Hm?“ macht er dann.

Ünal weiß, dass Mitarbeiter etwas selber einsehen müssen. Er ist überzeugt, dass sie genug eigenen Raum brauchen, wo sie über ihren Chef schimpfen können. Manchmal grillt er auf dem Gelände Würstchen für sie, aber es ist auch nicht gut, sie zu gut kennen zu lernen, sie mit ihren Problemen zu nahe heran zu lassen.

Wenn er wütend ist, sagt er zu seinen Angestellten: „Irgendetwas muss ich im Leben richtig gemacht haben, dass ich hier drinnen sitze und du da draußen wühlst.“

Das ist das höchste der Gefühle.

„Ich ernähre zwölf von deiner Sorte.“

Welche Sorte eigentlich?

Er muss sie nicht suchen. Sie sehen den Reststoffhof oben von der Brücke Richtung Westhafen, sie kommen an den Zaun und fragen nach Arbeit. Viele von ihnen sprechen kaum Deutsch. Ihre Zähne sind nicht das Erste, um das sie sich kümmern. Und mit dem kleinen Geld, das Ünal ihnen zahlt, wird das auch so bald nicht anders. Als es klopft, ist das Tommy. „Jetzt nicht“, sagt Ünal.

„Schade, ich wollte dich ein bisschen anpumpen.“

„Tommy!“ brüllt Ünal ihm hinterher. Dann lässt er doch was springen. Er weiß, dass der andere gerade Probleme mit der Miete hat und er, der schon seit zweieinhalb Jahren hier arbeitet, ein zuverlässiger Kerl ist, der das Geld zurückzahlt.

Wer sich anständig verhält, der bekommt Anstand zurück. Manchmal rät ihm ein Abnehmer: Warte noch zwei Wochen mit der Lieferung, dann sind die Preise wieder gestiegen.

"Pro Kilo 22 Cent - keine Kompromisse"

Er will derjenige sein, der für seine Kunden Probleme löst. „Wenn Taifun nicht zum Abholen kommt, dann ist er gestorben.“

Zuerst hat Ünal vieles als Restmüll entsorgt. Bis er herausfand, dass es besser ist, zum Beispiel mit Folie umspanntes Gemüse nicht einfach wegzuwerfen – sondern zu trennen. Reiner Bio-Müll ist billiger zu entsorgen, und für Folie gibt es Geld. Seitdem nimmt er die Probleme seiner Kunden auch in Folie verpackt.

Er würde sich wünschen, dass die Kunden, deren Kleinstmengen er klaglos nimmt, noch an ihn denken, wenn sie gewachsen sind und sich große Abnehmer für sie interessieren. „Pro Kilo 22 Cent“, steht auf einem Schild an der Waage, das gilt für mit Folie umspannten Bio-Müll. Und: „Keine Kompromisse.“

Denn im Kompromiss verschwindet seine Marge.

„Nicht zu viele Details schreiben, dann kann man mich analysieren“, sagt er. Analysieren ist ja das, was er mit anderen ständig macht. Er sitzt dann hier in seinem Büro. Gedanken sortieren.

Eine gute Analyse ist es, die am Ende für die Marge verantwortlich ist.

Um sieben Uhr früh hat das erste Berliner Novemberlicht alles rosa überglänzt. Während sie auf dem Hof die ungefederten Gabelstapler über den brüchigen Boden in die Pappberge lenken, ist für Ünal jeder Schlag in den Rücken auch heute noch ein Befreiungsschlag vom modernen Sklaventum. Oben von der Brücke schauen im Vorbeilaufen die Leute herunter, langsam verdichtet sich der Strom zum Berufsverkehr. Der Verkehr nimmt zu, auch der Geruch auf dem Hof, das Licht, die Lautstärke. Schon wird das Gehen zum Hasten.

Sie gucken immer, sagt Ünal. „Sie werfen auch Bananen.“ Ünal hat schon einmal darüber nachgedacht, dass sie hier unten in Tierkostümen arbeiten könnten, damit die da oben was zu lachen haben.

Chef und Mitarbeiter. Atilay Ünal kann besser Stapler fahren als alle zusammen. Sagt er.
Chef und Mitarbeiter. Atilay Ünal kann besser Stapler fahren als alle zusammen. Sagt er.

© Xiomara Bender

Seit einiger Zeit hat er manchmal seinen 17-jährigen Sohn mitgebracht, der ganz plötzlich verstand, warum sein Vater jeden Abend so müde ist. Er versucht, ihm ein Paradox zu erklären: warum im Geschäft jeder Cent zählt und keine Marge zu gering ist. Und dass in der Familie aber Geld keine Rolle spielt. „Geld ist wie Dreck unter den Fingernägeln. Es kommt und geht.“

Ünals Unternehmen, das er sich in den letzten acht Jahren aufgebaut hat, ist bereits ein Fall für die nächste Generation.

Und, wo soll es noch hingehen?

Schwierig, das jetzt so zu sagen.

Eine Weile Schweigen.

„Auf jeden Fall ins Grüne.“

„Ehrlich, ich bin menschenscheu geworden, auch wenn das nicht so aussieht.“

Das glänzende Motorrad? Fährt nur bei schönem Wetter, wenn er sicher sein kann, dass die Maschine nicht schmutzig wird.

Dann springt Ünal auf, ein Geräusch sagt ihm, dass die Walze an der Wand des Containers kratzt, der nicht dicht genug abgestellt worden ist.

„Ist doch besser als Flaschen sammeln, oder?“

Dieser Text ist gedruckt in der Tagesspiegel-Samstagsbeilage Mehr Berlin erschienen.

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