zum Hauptinhalt
300503_0_410fcb26.jpg

© Doris Spiekermann-Klaas

Reinickendorf: Kirche und Kiez

Seit 1998 konnten die Sozialdemokraten den Wahlkreis Reinickendorf drei Mal erobern. Am 27. September könnte der Mittelständler und CDU-Politiker Frank Steffel die Nase vorn haben.

Von Ulrich Zawatka-Gerlach

Hoch oben im Norden, zwischen der S-Bahn nach Oranienburg und dem Waldsee, wo Erich Kästner wohnte, prägen hübsche kleine Häuser mit gepflegten Gärten und alten Bäumen das Stadtrandbild. Mittendrin steht das schmucke, weiß gekalkte Gotteshaus der katholischen Gemeinde Maria Gnaden. Hier finden die Hermsdorfer Kirchengespräche statt, zu allen möglichen Themen, jetzt auch zur Bundestagswahl am 27. September. Im voll besetzten Kirchenraum, zwischen Altar und Muttergottes, haben sich am Mittwoch die Kandidaten des Wahlkreises Reinickendorf versammelt.

Der CDU-Mann Frank Steffel fühlt sich hier wohl. Das ist ein Heimspiel für ihn. Auf den harten Bänken sitzen viele junge Leute in lässiger Markenkleidung, freundlich und gebildet, ihre Fragen formulieren sie sorgfältig. In diesem Ortsteil ist nicht Hartz IV das Problem. Diskutiert wird über Hochschulgebühren, Wehrdienst und Afghanistan, Wirtschaftswachstum und Steuerpolitik.

Steffels kräftiger Bass, der gelegentlich etwas drängend wirkt, füllt den Kirchenraum. Es freut ihn, dass er nicht nur als CDU-Kandidat, sondern auch als Präsident der Reinickendorfer Füchse vorgestellt wird. An diesem Ort betont er auch gern die christlichen Werte, die dank der Krise wieder stärker im Gemeinwesen verankert seien. Er lobt Schily und Schäuble, Künast und Westerwelle, als er über den deutschen Einsatz in Afghanistan und die innere Sicherheit spricht. „Wir müssen etwas tun gegen die verrückten Terroristen, das sind ja nicht irgendwelche kleinen Amokläufer.“ Für 2013 warnt Steffel drohend vor dem „Berliner Modell“ im Bund. Also eine „kommunistisch-sozialistische Regierungsbeteiligung“. Der Beifall schwillt an im Kirchenschiff.

Da kommt selbst die energische FDP-Frau Mieke Senftleben nicht mit, obwohl die Oberschüler ihren hübschen Spruch „Ich mache seit meinem fünften Lebensjahr Bildungspolitik“ dankbar quittieren. Sie hat keine Chance, den Wahlkreis Reinickendorf zu erobern, ebenso wenig wie die Grünen und Linken, aber sie will keine Erststimmen an Steffel abtreten, trotz ihres Bekenntnisses zu Schwarz-Gelb. „Das ist eine Frage des Selbstbewusstseins.“

Der eigentliche Herausforderer des Reinickendorfer CDU-Kandidaten ist Jörg Stroedter. Ein rechter Sozialdemokrat, pragmatisch, rührig. Wie Steffel sitzt er im Abgeordnetenhaus, beide haben Volkswirtschaft gelernt, aber anders als Steffel führt der SPD-Mann kein Teppichbodenimperium mit 700 Mitarbeitern, sondern ein kleines Baubetreuungsbüro. In der Kirche von Maria Gnaden begrüßen auch ihn die Zuhörer freundlich – aber nicht mehr. Stroedter weiß, dass er in der katholischen Gemeinde nichts gewinnen kann, obwohl er um die Ecke wohnt.

Deshalb verlässt sich der 55-jährige Sozialdemokrat, der mit breitem Scheitel von den Wahlplakaten lacht, auf die andere Welt, die es im Bezirk gibt: das Märkische Viertel, Reinickendorf West und Ost, nicht zu vergessen Borsigwalde. Traditionelle Hochburgen der Berliner Sozialdemokratie. „Wenn wir es schaffen, dort unsere Wähler zu mobilisieren, habe ich eine Chance“, sagt Stroedter. Er setzt auf die Wirkung des Straßenwahlkampfs. Und wenn Steffel sagt, er habe an 150 Veranstaltungen teilgenommen, sagt Stroedter stolz: „Ich habe über 20 000 Menschen im Kiez angesprochen.“

Die Frühherbstsonne steht über der Allee von Platanen und den verstreuten Grünanlagen, die mit dem schmucklosen Beton im Märkischen Viertel ein wenig versöhnen. Hier steht das Vermietungsbüro des städtischen Wohnungsunternehmens Gesobau, das für die Großsiedlung aus den sechziger Jahren zuständig ist. Und ein großes Einkaufszentrum. Davor Stroedter, in Jeans und fein gestreiftem Sakko. Roter Sonnenschirm, Materialtisch, Kugelschreiber, Gummibärchen und ein bunter Flyer. Das ganze Programm. Der SPD-Mann ist stolz auf das Flugblatt in türkischer Sprache, das ihm die Genossin Bilkay Öney übersetzt hat, die im Mai von den Grünen zur SPD wechselte.

Die SPD-Abgeordnete Brigitte Lange, eine intime Kennerin des Märkischen Viertels, hilft beim Verteilen und begrüßt manche Passanten mit Handschlag. „Als der Wahlkampf begann“, sagt sie, „war die Stimmung aggressiver, wir wurden sogar als rote Socken beschimpft.“ Das sei jetzt deutlich besser geworden. Tatsächlich wird das Material hier bereitwillig angenommen. Eine Frau sagt aber streng: „Macht was, kümmert euch, damit’s uns besser geht, dann kriegt ihr auch wieder meine Stimme.“ Ein Mädchen bettelt um Gummibärchen, die seien wirklich gut. Männliche Passanten schleppen eher wortkarg die Einkaufstüten ihrer Frauen. Ein kleiner kecker Hund wird den Reinickendorfer Genossen von seinem Frauchen stolz vorgestellt: „Der heißt Herr Wowereit!“

So hat eben jeder sein Heimspiel im roten und schwarzen Reinickendorf. Wer diesen Bezirk begreifen will, sollte zuerst am Heiligensee spazieren gehen, sich in Hermsdorf die sauber herausgeputzten Reihenhäuser anschauen, dann am Kurt-Schumacher-Damm im Verkehr stecken bleiben, um noch einen Abstecher in die Gorkistraße machen, wo das geschlossene Hertie-Kaufhaus steht und manche Rentner am späten Vormittag vom Kaffee zum ersten Bier wechseln.

Seit 1998 hat in diesem Reinickendorf der frühere Bezirksbürgermeister und Sozialdemokrat Detlef Dzembritzki drei Mal ein Bundestagsmandat erobert. Der frühere Bezirksbürgermeister geht jetzt in den Ruhestand – ein Abonnement auf diesen Wahlkreis hat die SPD nicht.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false