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Reise in die Vergangenheit von Berlin: Neues Buch mit alten Fotos aus Friedenau

Das ist Berliner Geschichte auf anderthalb Kilometern: Über die Rheinstraße gibt es viel zu erzählen. Ein neues Buch erinnert an den Wiederaufbau - und den Besuch eines Weltstars.

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Draußen brüllen die Ewig-Gestrigen: „Marlene go home!“ Drinnen singt die Diva rau, schluchzend, kess ihre Evergreens: „Wenn ich mir was wünschen dürfte“, „I May Never Go Home Anymore“. Marlene Dietrich startet am 3., 4. und 5. Mai 1960 ihre erste Deutschlandtournee nach dem Zweiten Weltkrieg im Titania-Palast am Walther-Schreiber- Platz. Da steht sie im hautengen Paillettenkleid auf der Bühne, umwölkt von schneeweißen Boas. Von Fans umjubelt, denen eine Karte bis zu 100 DM wert ist. Nach der Premiere lächelt sie den Fotoreportern durchs offene Limousinenfenster zu, einen Fliederstrauß in den Händen. Polizisten halten die Protestler ab.

Die Szene geht um die Welt – und ist jetzt wieder in einem liebevoll gestalteten Foto- und Textband zu sehen: „Entlang der Rheinstraße. Friedenau erzählt – 1945 - 1963“. Knapp eineinhalb Kilometer läuft oder fährt man über die Hauptstraße vom Innsbrucker zum Breslauer Platz. Und weiter geht’s etwa 1000 Meter über die Rheinstraße zum Walther-Schreiber- Platz. Keine große Entfernung, aber ein Stück Straße, auf dem sich Berliner Nachkriegsgeschichte komprimiert und eindrucksvoll dokumentieren lässt.

Ein Stern geht auf über Friedenau. Marlene Dietrich sang 1960 im Titania-Palast.
Ein Stern geht auf über Friedenau. Marlene Dietrich sang 1960 im Titania-Palast.

© Rue des Archives

Genau das haben die Verleger Evelyn Weissberg und Hermann Ebeling von der „Edition Friedenauer Brücke“ getan. In ihrem Band zeigen sie mehr als 160 vergessene oder von ihnen neu aufgetriebene Fotografien – entdeckt auf Flohmärkten, in Antiquariaten, Familienalben, bei Amateur- und Profifotografen. Etliche Bilder haben Ruth und Herwarth Staudt mit ihrer Rolleiflex 1949 bis 1957 im Auftrag des Bezirks Schöneberg fotografiert. Das Paar sollte Ruinen und Straßenzüge ablichten, bevor über Abriss oder Wiederaufbau entschieden wurde. Sie kletterten über Bombentrümmer hinweg, rückten auch Menschen ins Bild, hielten Stimmungen fest.

Marlene Dietrich schlugen damals in Berlin auch Ressentiments entgegen. Demonstranten verübelten ihr die klare Parteinahme für die Alliierten im Zweiten Weltkrieg. Nach Marlenes Pressekonferenz am 3. Mai im Hilton-Hotel schrieb der Tagesspiegel: „Sobald jemand auf ihre angeblich antideutsche Einstellung zu sprechen kam, reagierte sie mit empfindlicher Nervosität.“ Die Fans aber waren weitaus in der Mehrzahl, ein Bild zeigt sie in der Warteschlange vor den Schaukästen des Titania-Palastes mit Marlene-Postern und Starfotos. Bis zur Eröffnung der Philharmonie 1963 war der Palast West-Berlins einziger größerer Konzertsaal. 1951 fanden dort erstmals die Internationalen Filmfestspiele, die Berlinale, statt. Heute beherbergt er das gleichnamige Cineplex-Kino.

Doch zurückspaziert in die ersten zwei West-Berliner Jahrzehnte. Es sind ja nur ein paar Schritte vom Titania-Palast zum traditionsreichen Bornmarkt. „Vollheringe“ gibt es da, „prima zum Einlegen!“ Gemüse aus der Mark, Popelinemäntel. Seit 1908 wird hier an gut 300 Ständen verkauft. Gleich am Eingang sieht man Schauspielerin Gertrud Kückelmann auf einem großen Transparent. Mit kessem Lächeln wirbt der Jungstar der frühen Fünfziger für die Verwechslungskomödie „Fräulein Casanova“, Premiere war 1953. Ende der Sechziger musste der Born-Wochenmarkt dem Einkaufszentrum „Forum Steglitz“ weichen.

Blick von den Marktständen zur Rhein- und Hauptstraße. Links an der Ecke zur Bundesallee steht das 1953 gerade neu eröffnete „Kaufhaus Held“. Gebaut im schlichten Stil der Nachkriegsmoderne nach Plänen des Berliner Architekten Paul Schwebes, der auch das Telefunken-Hochhaus am Ernst-Reuter-Platz entworfen hat. Vor „Held“ rumpeln die Straßenbahnen, die Sonnenmarkisen sind herabgeleiert, Schaufensterpuppen tragen Petticoats. 1973 hat der Hertie-Konzern „Held“ übernommen, nach dessen Pleite wurde das Gebäude 2003 abgerissen. heute steht dort das Schloss-Straßen-Center (SSC).

"Brezelkäfer" und Trümmerbahn

Wie sich die Straßen ändern. 1950 dampft eine der letzten Trümmerbahnen über die Rheinstraße, am Breslauer Platz erinnern Fensterhöhlen an die Bombennächte, das Rathaus Friedenau ist noch eine Ruine. Am Rande der Hauptstraße parken die „Brezelkäfer“ mit geteilter Heckscheibe, Im Oktober 1954 versammeln sich Anhänger der Sozialistischen Einheitspartei West-Berlins (SEW) zur Kundgebung vor dem heute denkmalgeschützten „Roxy-Palast“, Hauptstraße 78. Über dem Eingang des Kinos wird die Premiere eines gerade gedrehten Films angekündigt: Kästners „Fliegendes Klassenzimmer“, inzwischen ein Klassiker.

Und von der autogerechten Stadt ist am Innsbrucker Platz in den Fünfzigern noch nichts zu sehen. Kein Autobahntunnel, keine Auffahrten. Die Straßenbahnlinien 88, 73 und 66 queren den Platz, sie wurden erst zwischen 1961 und 1963 eingestellt.

Am 26. Juni 1963 fährt US-Präsident John F. Kennedy bei seinem legendären Besuch in Berlin auch durch die Rheinstraße. Friedenauer Familien knipsten das Ereignis vom Balkon aus. Ihre Bilder zeigen den Konvoi in einer Wolke von Konfetti. Im Textteil des Buches, dessen zeitgenössische Dokumente und Erzählungen den fotografischen Zeitspaziergang bestens ergänzen, erinnert sich die Friedenauerin Sigrid Wiegand: „Als wir Willy Brandt im offenen Auto neben Kennedy stehen sahen, brüllten wir von unserem Balkon herunter wie die Verrückten: „Willy, Willy!“ – so dass er hochblickte. Er wollte wohl sehen, was da los war.“

Entlang der Rheinstraße – Friedenau erzählt 1945 - 1963, ein Lese- und Fotobuch, Edition Friedenauer Brücke, Hermann Ebling/Evelyn Weissberg, 310 Seiten, 39 Euro

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