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Moment der Wahrheit. Wird Wieland Giebel das Kreuzberger Café wohl erwähnenswert finden? 

© Henrik Pomeranz

Reiseführer in Berlin: Der Mann, der über Top und Flop entscheidet

Unzählige Reiseführer gibt es über Berlin. Aber wer schreibt die eigentlich und wie sind die Kriterien? Wir haben Wieland Giebel begleitet, der an einer neuen Ausgabe arbeitet.

Wieland Giebel kaut auf seinem Blumenkohl-Risotto – es ist ein gründliches Malmen, der Blick gesenkt. Wer die Umstände nicht kennt, wird kaum vermuten, wie folgenschwer es ist. Denn für das Kaffeehaus in Kreuzberg ist das gleichbedeutend mit dem Moment, in dem ein Künstler vor eine Jury tritt. Top oder Flop.

Etwas vorher: Giebel kommt mit leichter Verspätung am Café an. Er hatte im Außenministerium zu tun, sagt er, und klingt dabei zwangsläufig wichtig. Der 65-Jährige ist vieles: unter anderem Verleger, Herausgeber, Kurator – heute ist er als Autor für den „DuMont direkt Berlin“-Reiseführer hier. Was sollte der Leser sehen? Wo essen und tanzen? Seine Worte weisen Tausenden den Weg. Von preußischer Kultur bis langen Partynächten: Den Lesern ist Berlin vor allem ein Versprechen. Wieland Giebel sorgt dafür, dass es in Erfüllung geht. Bestenfalls an einem Wochenende.

Die Kellnerin bringt das falsche Essen

Er hat von der Eröffnung des Café Ora in der alten Oranien-Apotheke gelesen und will sich den Laden nun anschauen. Vielleicht ein Kandidat für seinen Reiseführer, sagt er. Giebel kennt die Räume noch aus der Zeit, als es hier Aspirin und Nasentropfen gab. Um sich den Ort von einst vorzustellen, braucht es nicht viel Fantasie, die alte Einrichtung ist noch zum großen Teil erhalten: deckenhohe dunkle Holzregale wie aus einem Guss, in denen, neben Kaffee- und Weingläsern auch allerlei alte Apotheker-Gerätschaften stehen. Geschichtsfan Giebel ist begeistert.

Doch dann bringt die Kellnerin das falsche Essen. Giebel hatte da schon eine Vorahnung. Hat das Café die Gunst des Reiseführers verspielt? Ist der Eintrag in Giebels Lexikon des guten Geschmacks dahin? Für das Café könnte so ein Eintrag die Existenz sichern.

Der „Vöner“ etwa, der vegetarische Döner am Ostkreuz, sei von ihm entdeckt worden, behauptet Giebel. Das Lokal stand schon in seinem Reiseführer, bevor es der Lonely Planet, der Reiseführer der Rucksacktouristen schlechthin, ebenfalls erwähnte. Seitdem stehen sich dort die Vegetarier die Füße platt. Somit war es zwar mehr der Einfluss des Lonely Planet, gibt Giebel zu, aber er habe den Vöner entdeckt.

Feste Kritierien gibt es nicht

Dieses Café habe ihn mit der schusseligen Bedienung jedoch noch nicht vergrault, beteuert Giebel. Das sei kein Kriterium, um in den Reiseführer zu kommen. Überhaupt gebe es da keine festen Kriterien, sagt Giebel. Es müsse ihm einfach gefallen und der Ort sollte wirklich typisch sein für Berlin. Der bloße Geschmack eines Einzelnen führt hier also die Massen durch die Straßen Berlins.

Stellt sich die Frage, ob so ein Reiseführer mit nur einem Autor überhaupt noch zeitgemäß ist. Heute kann schließlich jeder mit ein paar Klicks zum international gelesenen Richter über gutes und schlechtes Essen, Schlafen, Erleben werden. Das Portal TripAdvisor hat nach eigenen Angaben drei Millionen Lokale gelistet, 83 Millionen Nutzer produzieren 160 neue Beiträge pro Minute. Wie kann ein Einzelner da mithalten?

Giebel will sich nicht geschlagen geben. Informationen zu Gastronomie und Übernachtungen wandern zwar deutlich ins Internet ab, aber in einigen Bereichen bleibe das Netz zurück. „Ein Mehrwert der klassischen Reiseführer ist, dass sie das Wesen der Stadt einfangen“, sagt er. Wenn Giebel versucht, eben dieses Wesen Berlins zu beschreiben, hört sich das so an: „Andere Städte kann man sich für die Rente aufheben. Berlin ist Party für alle. Anfang der Neunziger schien es so, als verhielte sich Berlin wie eine Rakete kurz nach dem Start, noch ein bisschen wie in Zeitlupe verharrend.

Heute scheint die Triebkraft unaufhaltsam.“ Ordentlich Pathos also, das dem Besucher die Vorfreude steigern soll. Außerdem sei sein Reiseführer kurz, gebündelt, übersichtlich und in zwei Stunden im Flug nach Berlin gelesen. Darauf komme es an und das finde man so nicht im Internet, sagt der Experte.

Kann er auch der Jugend den Weg weisen?

Aber kann ein 65-Jähriger auch der Jugend den Weg weisen? War er überhaupt in den Clubs, die er gelistet hat? In allen, versichert Giebel. Im Berghain sei er vor drei Jahren mit ein paar Freunden gewesen und hätte bis in die Puppen getanzt. „Vorher haben wir uns szeneüblich vorbereitet“, sagt er und grinst.

Das Blumenkohl-Risotto wird serviert und unterbricht das ungläubige Staunen. Jetzt ist es also soweit: Wird ihm das Essen schmecken und lobende Erwähnung finden? „Schmeckt gut, sagt Giebel, „der Reis ist nicht verkocht und es sieht fast aus wie bei Muttern.“ Ein solides Fazit, nicht überschwänglich, aber es hat gereicht. „Für das Café schmeiße ich in der nächsten Ausgabe etwas anderes raus“, sagt er. Ohnehin scheint sich Giebel mehr für das Ambiente als für die Speisekarte interessiert zu haben.

"Es ist cool, wenn man erwähnt wird"

Beim Rausgehen erfragt der Autor noch bei einem der Inhaber ein paar Details über die Einrichtung und verkündet ihm nebenbei die frohe Botschaft, dass sein Lokal den Weg in den Reiseführer finden wird. Dann bricht Giebel auf zu seinem nächsten Termin. Der Ko-Inhaber Christoph Mack ist eigentlich Fotograf. Das Café hat er mit einem Freund gegründet.

„Als der Mann eben meinte, dass er für den Reiseführer arbeitet, habe ich mir keine großen Gedanken gemacht“, sagt Mack. „Es ist natürlich immer cool, wenn wir irgendwo erwähnt werden, aber die schönsten Momente sind die, wenn die Leute zufällig reinkommen und uns selbst entdecken.“ Gut, dass Giebel das nicht mehr gehört hat.

Henrik Pomeranz

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