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Renate Krieg (1951-2016) im Jahr 2012

© privat

Berlin: Renate Krieg (Geb. 1951)

Nicht weil gerade alle von der Kulturrevolution sprachen, wollte sie nach Schanghai

Fräulein Krieg. Aha.“ Der Professor schiebt die vor ihm liegenden Papiere auseinander, hebt die Brauen, als hätte er eine heikle Information entdeckt, schiebt die Papiere wieder zusammen. „Sie wollen also mit dem DAAD nach China?“ Er ist unter den FU-Studenten für seine hinterhältigen Prüfungsfragen bekannt. „Na, dann fangen wir mal ganz simpel an: Welche chinesische Literatur haben Sie denn bis jetzt gelesen?“ Er weiß, dass man Liaozhai Zhiyi, „Seltsame Geschichten aus einem Gelehrtenzimmer“, nicht einfach so im Original lesen kann wie Madame Bovary oder Jane Eyre. Sein Blick richtet sich fest auf Renate. Renate sitzt ruhig auf ihrem Stuhl. „Ich habe ,Der blaurote Methusalem. Eine lustige Studentenfahrt nach China’ gelesen.“ „Der blaurote Methusalem“ ist ein Roman von Karl May, in dem ein Kapitän behauptet, perfekt chinesisch sprechen zu können und an alle Worte die Endungen -eng, -ong, -ing und -ung hängt. Der Professor schluckt.

Renate hätte auch sagen können: „Hören Sie mal zu, Ihre bildungsbürgerliche Anmaßung können Sie sich sonst wohin stecken. Ich habe, um hier zu sitzen, eine Menge getan. Meine Eltern waren einfache Leute, hatten einen Blumenladen. Meine Mutter ist gestorben, als ich zwölf war. Aber ich mochte die neue Frau meines Vaters, hätte sie nie Stiefmutter genannt, ich war ja auch nicht Schneewittchen. Im Geschäft hab ich nach der Schule ausgeholfen, bin dann selbst Floristin geworden, wollte aber mehr als dieses Provinzleben in Waldshut, Waldshut liegt an der Schweizer Grenze, aber das wissen Sie sicher. Also bin ich nach Freiburg gegangen, hab mein Abi nachgeholt, bin weiter nach Berlin, ans Ostasiatische Institut, arbeite nebenbei in der Bibliothek, war letztes Jahr in Taiwan und möchte jetzt nach Schanghai. Nicht, weil es exotisch ist oder gerade alle von Maos Kulturrevolution schwärmen. Ich möchte das Land sehen und die Sprache lernen.“

Sie hätte all das sagen können, sagte es nicht – und bestand die Prüfung. Studierte ab 1979 in China und arbeitete später an der Schanghaier Universität. Erhielt einen neuen Namen, Leina, der Donner, färbte ihre Haare schwarz, kaufte sich die Sorte Hausschuhe, die auch Mao getragen hatte, las und schrieb immer besser die chinesischen Schriftzeichen, bekam eine Tongwu zugeteilt, eine Zimmergenossin, um sich zurechtzufinden auf dem Campus, wobei prüfende Blicke auf die Studentin aus dem kapitalistischen Ausland auch erwartet wurden. Aber Zhengxiao und Renate verband bald mehr als die offizielle Zuteilung, Zhengxiao nahm Renate mit zu ihrer Familie, sie tranken zusammen großblättrigen grünen Tee, aßen im Winter Feuertopf in kleinen unbeheizten Restaurants, erzählten sich ihr Leben.

Die Berliner Studenten redeten sich die Köpfe heiß über die Kulturrevolution, über ein Buch zweier Franzosen, „Zweite Rückkehr aus China“, in dem diese ihre Ernüchterung angesichts der chinesischen Verhältnisse beschrieben. Renate war hin- und hergerissen zwischen ihren idealen Vorstellungen vom Land und der Skepsis gegenüber dem rigiden Einheitsparteisozialismus.

Sie konzentrierte sich mehr und mehr auf sozialwissenschaftliche Themen, nahm an Forschungsprojekten teil, „Erziehung in China“, „Altern in China“, schrieb ihre Doktorarbeit, „Soziale Sicherung in China“, erhielt Lehraufträge in Bremen und Dresden. Geliebt aber hat sie Berlin. Ihre Schöneberger Wohnung oben im vierten Stock und den Balkon, bepflanzt mit Blumen, Tomaten, Chilischoten, Erdbeeren. Den Winterfeldtmarkt, auf dem sie jeden Mittwoch und jeden Samstagfrüh, vor den Touristen, einkaufte. Sie hatte Rituale. Reagierte auch rigide, schlug jemand eine Abweichung vor. „Ich gehe am Montag um fünf ins Kino“, teilte sie einer Freundin mit. „Um fünf?“, zögerte die. „Geht es nicht auch um acht?“ – „Nein.“

Mindestens einmal in der Woche ging sie ins Kino. Ganz vorn auf ihrer Liste standen Woody Allen und Kate Winslet und naturgemäß chinesische Filme. Sie hörte auch gern chinesische Musik, den süßlichen Gesang von Deng Lijung, obwohl ihr eigentlich alles Süßliche auf die Nerven ging, aller Firlefanz. Da wollte ihr doch tatsächlich mal eine Freundin einen Weihnachtsstern in die Wohnung hängen: „Das schafft eine schöne Atmosphäre.“ Eine Kitschkatastrophe.

Sie lief zu Fuß oder fuhr Fahrrad. Sie kochte Sichuan-Gerichte und gelegentlich auch Spätzle. Sie hatte Schlafprobleme, las dann, bis es hell wurde, Kriminalromane. Blieb manchmal tagelang in ihrer Wohnung. Hatte enge Freunde. War eine Einzelgängerin in Gemeinschaft.

„Warum nur fühle ich mich so matt?“, sagte sie mitten im Sommersemester vor fast zwei Jahren in einer Seminarpause zu einer Freundin. „Vielleicht regen mich die faulen Studenten zu sehr auf, vielleicht strengen mich die Zugfahrten nach Dresden an. Vielleicht ist es auch nur das Alter.

Die Studenten arbeiteten ambitioniert, in Dresden war sie in zwei Stunden, und Großmütter sehen anders aus. Die Erklärung war simpel und grausam: Krebs.

Im September fuhr sie noch einmal nach China, im Jahr darauf starb sie.

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