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Berlin: Renate Stachura (Geb. 1948)

Auch eine Wahrheit schleudert man dem anderen nicht ins Gesicht

Bei wem kann man denn jetzt, um Mitternacht anrufen?“, ruft Karin und weiß, ihre Frage ist eine rhetorische, eine hoffnungslose. Denn ihre Freundin ist tot.

Bestimmt zwei Mal in der Woche, wenn Karin und Renate, Freundinnen seit Jahrzehnten, ins Bett gegangen waren, riefen sie einander an, sprachen lange, über den Tag, über ihre Sorgen, über Geglücktes. Renates Aufforderung „Ruf an, auch spät“ war nicht einer von diesen lapidar hingeworfenen Sätzen, die ohnehin niemand ernst nimmt. Renate hörte zu. Gab dem Sprechenden das Gefühl, nicht zu stören, wichtig zu sein. Wertungen lehnte sie ab. Eine Wahrheit, so sagte sie, schleudert man seinem Gegenüber nicht wie einen nassen Lappen ins Gesicht, man hilft ihm behutsam hinein, wie in eine Jacke. Sie spürte, wenn etwas beim anderen nicht stimmte, durchleuchtete ihn dabei jedoch nicht kalt, entblößte ihn nicht. Still, fast stoisch, gelang es ihr, Probleme zu lösen, zu vermitteln.

Denn sie war in einer Mitte aufgewachsen, war Schwester zwischen einem älteren und einem jüngeren Bruder, lernte hier, was sie später perfektionierte. Das Bild der Spirale, das sie in ihrer Arbeit als Psychologin häufig benutzte, illustriert ihre Vorstellung vom Lauf des Lebens: Immer wieder kehrt man zurück zu Motiven und Themen, jedoch immer auf einer neuen Ebene. Renate selbst trug schon früh den Wunsch in sich, Psychologie zu studieren. Aber sie musste zunächst einige Etappen der Spirale entlanglaufen, ehe sie das Ziel erreichte.

Ihr Vater, ein protestantischer Theologe, prägte ihre Kindheit in der DDR, sie sollte nicht dauernd anecken, aber auch keine staatskonforme Linie einschlagen. Er schickte sie auf ein evangelisches Gymnasium in Frohnau. Doch nach dem Mauerbau musste sie zurück auf ihre alte Schule in Ost-Berlin. Eine Strafe für Renate, die Hänseleien der Mitschüler, das bedrohliche Wort „Klassenfeind“, das sie manche Lehrer sagen hörte. An ein Abitur war nicht zu denken.

Aber es gab einen Ausweg: Sie ging nach Naumburg, auf das Kirchliche Proseminar, wo man ein Kirchenabitur ablegen konnte. Sie studierte Theologie in Halle und Jena. Aber Pfarrerin wollte sie nicht werden. Sie war der Kirche stets verbunden, ihr Glaube niemals abwesend, doch wuchs der Wunsch, seelische Verflechtungen zu verstehen. Bewusst mied sie Kreise, die ausschließlich aus der Kirche kamen, las auch Adorno und Lukács. In Leipzig besuchte sie Vorlesungen in Psychologie, arbeitete nebenbei in Berlin, wo sie mit ihrer Familie lebte. Bahnhöfe gehören zu den ersten Erinnerungen ihrer Tochter.

Auf ihre Weise, zäh und leise, schaffte sie den Abschluss als Diplompsychologin. Sie betreute mehrfach behinderte Kinder, übernahm nach der Wende die Leitung der Familienberatung in Weißensee, erhielt ihre Approbation. Ihren Schwerpunkt setzte sie auf die Trauma-Arbeit, betreute Angehörige der Tsunami-Opfer, Polizisten und Feuerwehrleute. Sie publizierte Texte und sprach auf Seminaren. Sie führte ihre Töchter ins Theater, in die Oper, in Museen. Trug aus jeder Ausstellung einen Katalog mit nach Hause. Sie bereiste die Welt, zusammen mit ihrer Freundin Karin. In den Uffizien trennten sich beide, jeder betrachtete die Bilder allein, zwei Stunden später trafen sie sich wieder. Renate sagte: „Hast du bei Caravaggios Bacchus diesen Lichteinfall bemerkt?“ Und Karin staunte, hatte ihn nicht bemerkt, sah nun, mit Renates Blick, viel mehr.

Ihre letzte Ausstellung besuchte Renate in Frankfurt. Botticelli. Für weitere hatte der Krebs ihr die Kraft genommen. Tatjana Wulfert

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