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Berlin: Reno Sprockhoff (Geb. 1962)

Seine Band: die "Trümmertruppe", denn alle vier Musiker waren krank

Es würde nicht mehr lange hin sein. Alle wussten das. Um Weihnachten vielleicht.

Am 29. Oktober sitzen Reno und Fritzi zusammen im Wohnzimmer. „Papa“, sagt Fritzi, „aber morgen, am 30., darfst du nicht sterben, morgen ist das Geburtstagsfest von meiner besten Freundin.“ Sie sagt den Satz mit melancholischem Spott und Reno stimmt ein in den traurigen Scherz: „Nein, nicht morgen. Ich glaube, Halloween ist gut zum Sterben.“

Er stirbt an Halloween, an All Hollows’ Eve, am Abend vor Allerheiligen. Die Kinder rennen in Hexen- und Skelettkostümen die Straßen entlang, rufen schaurige Schwüre in die Nacht, klingeln bei fremden Leuten und verlangen Bonbons. Sie sind außer Rand und Band, denn die Autorität der Erwachsenen gilt heute nicht.

Auf Menschen, die Gehorsam einfordern, reagierte Reno schon immer empfindlich. Er brach das Gymnasium ab. Er spielte Rock ’n’ Roll auf der Gitarre. Er heiratete mit 21 und ließ sich nach neun Monaten wieder scheiden. Er arbeitete als Altenpfleger, wurde aber bald wieder entlassen, weil er sich mit der Oberschwester angelegt hatte. Er schrie während einer Demonstration gegen die Volkszählung Polizisten an, die mit Schlagstöcken in die Menge vorrückten und dabei eine Frau mit Kinderwagen überrannten. Er wusch Autos bei BMW. Er trug Briefe und Pakete aus.

Sicher, seine Eltern hätten nichts gegen ernsthafte berufliche Ambitionen ihres Sohnes gehabt. Aber nun hatte er diesen Weg gewählt, loser, freier als der ihrige. So ist es eben, sagten sie, ohne ihn weiter zu drängen. Außerdem hatte er eine junge Frau getroffen, deren Bekanntschaft sie früh um acht im Badezimmer ihrer Wohnung machten, und die sie auf Anhieb mochten.

Zwei Wochen danach zogen Reno und Claudia zusammen.

Zufällig erfuhren sie von einem Zeitungsladen, Brandenburgische, Ecke Wittelsbacherstraße, dessen Besitzer aufhören wollte. Warum also zögern? Sie würden beieinander sein, und Reno müsste nicht länger mit irgendwelchen Vorgesetzten hadern.

Auf 21 Quadratmetern gab es Zeitungen, Wochenmagazine, Schreibwaren, Zigaretten, Getränke, Süßigkeiten und Eis. Man konnte Lottoscheine ausfüllen und dann noch ein bisschen bleiben und plaudern. Die alte Dame von gegenüber hatte ja sonst niemanden, und der alleinstehende Herr aus dem Nachbarhaus war immer noch auf der Suche nach der Richtigen. Es kam auch vor, dass er jemanden, der herumpöbelte rausschmiss.

Für die Kinder, Adrian und Fritzi, war der Laden der ideale Ort. Sie saßen in einer Ecke und lasen oder erzählten von ihrem Tag. „Es war immer jemand da“, sagt Fritzi, „wir konnten immer alles sofort loswerden.“ Später, als Reno nicht mehr arbeiten konnte, wartete er zu Hause. „Wir hatten ein Ritual. Ich kam von der Schule, setzte mich zu ihm auf die Couch, und wir besprachen, was wir heute essen wollen. Dann bin ich los, zum Einkaufen und anschließend haben wir zusammen gekocht.“

Am Anfang waren sich die Ärzte gar nicht sicher. Sie vermuteten eine chronische Leukämie, fanden dann aber ein Mantelzelllymphom, einen hoch aggressiven Tumor. „Nach der Chemotherapie“, sagt Fritzi, „nachdem ihm alle Haare ausgefallen waren, wuchsen ihm kleine weiche Locken. Wir haben ihm ständig über den Kopf gestrichen.“

Reno wurde schwächer. Trotzdem saß er nicht niedergeschlagen in der Ecke. Er lachte, er alberte herum, wie er es immer getan hatte. Und er ging zu den Proben mit seiner Band, der „Trümmertruppe“, wie er sagte, denn alle vier Musiker waren krank.

An Halloween schläft er ein, zu Hause, alle sind da, sie haben ihm sein Lieblingshemd, seine Lieblingshose angezogen, sie haben die Pizza bestellt, die er so gern mochte, sie trinken Milch und Wein, sie schauen ihn an, sie hören die Kinder auf der Straße schaurige Schwüre rufen, sie erzählen sich Geschichten, sie lachen, sie weinen.

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