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Berlin: Revolutionäre-Zellen-Prozess: Wie Frührentner in den Fängen der Justiz

Der Verteidiger erklärt, er habe Angst. Er sagt, er sei nicht der Mutigste, und er fühle sich bedroht.

Der Verteidiger erklärt, er habe Angst. Er sagt, er sei nicht der Mutigste, und er fühle sich bedroht. Bedroht von 9-Millimeter-Pistolen, von denen man nicht wisse, ob sie - unbeabsichtigt - losgehen könnten. Bedroht von ihren Trägern, den - möglicherweise - hysterischen Personenschützern des Kronzeugen. Der Verteidiger sagt: Waffen raus aus dem Gerichtssaal - oder kugelsichere Westen verteilen. Die Bundesanwälte schauen gramvoll. Ein Richter muss grinsen. Das Publikum schreit vor Lachen.

Der Verteidiger hat illustriert, als was die Angeklagten und viele Zuschauer die hohen Sicherheitsvorkehrungen empfinden, unter denen gestern vor dem Kammergericht die Verhandlung gegen vier mutmaßliche Mitglieder der Revolutionären Zellen (RZ) begann: "Als lächerlichen Mummenschanz eines klassischen Terroristenprozesses", wie der Anwalt sagt. Der Generalbundesanwalt wirft der Galeristin Sabine E., dem Hausmeister Axel H., dem früheren TU-Beamten Matthias B. und dem Mitarbeiter der "Forschungsgesellschaft Flucht und Migration", Harald G., Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und die Mittäterschaft an zwei Anschlägen vor, die inzwischen gut 10 Jahre zurückliegen, etwa einem Sprengstoffattentat auf die Berliner Siegessäule.

Tatsächlich wirken die heute 52-Jährigen, stark angegrauten Männer eher wie zufällig in einen Gerichtssaal geratene Frührentner denn wie revolutionäre Kampfmaschinen, in denen noch immer Hass auf den deutschen Staat und seine Asylpolitik lauern könnte. Die Frankfurter Galeristin E., 54, scheint besonders hart getroffen. Nach der Anhörung einer Ärztin wurde ausführlich über ihre Verhandlungsfähigkeit debattiert, ohne über einen konkreten Antrag zu entscheiden. Sie leidet nach Auskunft der Medizinerin seit Beginn ihres Gefängnisaufenthaltes unter vermehrten Migräneanfällen, die "u.a. durch üble Gerüche" ausgelöst werden. Diese Anfälle würden vor Gericht "zu Konzentrationsausfällen" führen. Die Verteidiger kritisieren insbesondere die "unvertretbar lange Untersuchungshaft" von elf bis 15 Monaten, zumal die Strafandrohung nicht hoch und eine Fluchtgefahr nicht gegeben sei.

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Auch das Ablichten der Personalausweise der Zuhörer wurde als unnötig beklagt, worauf ein Bundesanwalt erfolglos zu beruhigen versuchte: Die Daten würden nicht polizeilich registriert, sie blieben "im Justizbereich". Schon vor dem Betreten des Zuschauerraums war Prozessbeobachtern, etwa einem Abgesandten der Schweizer Juristenvereinigung und einem irischen Rechtsanwalt, Papier und Schreibgerät abgenommen worden. Die Kugelschreiber der akkreditierten Journalisten wurden eingehend inspiziert.

Da die Angeklagten nach Angaben eines Verteidigers im Prozess nicht aussagen werden, kommt eine zentrale Rolle in dem Verfahren dem inzwischen zu einer Bewährungsstrafe verurteilten Ex-Terroristen Tarik Mousli zu. Der 42-jährige Karatelehrer hatte die Vier als Kronzeuge der Anklage für die Attentate verantwortlich gemacht. Er soll unter Begleitung bewaffneter Polizisten aussagen. Die Bundesanwaltschaft bekräftigte, dass sie Mousli für "in hohem Maße gefährdet halte". Verteidiger Nicolas Becker hingegen spricht von einer "eindrucksvollen Inszenierung, die die Substanz der Zeugenaussage verbessern soll". Die Hauptverhandlung wurde noch vor Verlesung der Anklage unterbrochen, weil an der korrekten Besetzung der Ersatzrichter Zweifel aufgetaucht waren. Diese will die Verteidigung nun prüfen. Der Prozess wird am kommenden Donnerstag fortgesetzt.

Rico Czerwinski

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