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Berlin: Ricarda Westphal (Geb. 1985)

An ihrem Rucksack das Schwimmbrett, auf ihrer Nase die Sonnenbrille

Mit Chucks an den Füßen und den Songs von Green Day im Ohr war Rica unterwegs. „It’s something unpredictable but in the end it’s right, / I hope you had the time of your life.“ Bei Wind und Wetter saß sie auf dem Fahrrad. Kaum eine Strecke war ihr zu weit, wenn sie mit wehenden blonden Haaren durch Berlin eilte. Sie kannte die besten Routen von ihrer Wohnung in Prenzlauer Berg zur Uni. Mit dem Rucksack fuhr sie einkaufen. Sie besorgte Reispapier, Zitronengras und Ingwer und lud ihre Freunde in ihre aufgeräumte Wohnung ein, um ihnen ihr neuestes Rezept für Sommerrollen zu zeigen. Sie probierte gern Asiatisches aus, machte Sushi oder gönnte sich nach einer bestandenen Prüfung ihre Lieblingsrollen im Stammlokal in der Pappelallee.

Kaum war sie zu Hause angekommen, suchte sie ihre Schwimmsachen zusammen, um gleich wieder loszudüsen, in die Schwimmhalle im Thälmann-Park oder zur Fischerinsel, wo sie ihre Bahnen zog, eine nach der anderen, mehrere Male in der Woche.

Rica war fast ständig in Bewegung. Manchmal erschien sie rastlos und ungeduldig, vor allem mit sich selbst, dann zog sie wieder los, um beim Sport die Gedanken zu ordnen. Den Bachelor in Regionalwissenschaften Asien /Afrika wollte sie bald in der Tasche haben, um danach zu reisen und die Kulturen aus der Nähe zu studieren.

„Mit Mo habe ich verabredet, dass wir heiraten, wenn wir mit 30 noch nicht verheiratet sind!“ Mo, ihren Freund aus Kindertagen in Bonn, besuchte sie jedes Jahr. Wenn sie zurückkam, hatte sie kiloweise Haribo aus dem Fabrikverkauf im Gepäck und brachte Spezialmischungen für ihre Berliner Freunde mit. Für Simon, der einmal erwähnt hatte, dass ihm die roten Geleebeeren am besten schmecken, hatte sie alle anderen Farben aussortiert. Mit Heidi und ihm saß sie oft zusammen, dann musste sie erst einmal alle Neuigkeiten loswerden, später wurde sie still und sagte dann: „Ich bin so froh, dass ich euch habe!“

„Time grabs you by the wrist, directs you where to go.“ Im Mai rief sie überglücklich an: „Ab jetzt bin ich Tante Rica!“ Kurz darauf postete sie auf Facebook ein Foto von Nele: „Meine Nichte ist so süß, und sie hat einen tollen Geschmack!“ Nele hatte auf dem Bild die rosa Söckchen im Chucks-Design an, die sie ihr zur Geburt geschickt hatte. Wenig später machte Ricarda sich auf den Weg zur Nichte. Es wurde eine abenteuerliche Busreise mit Pannen und Verspätung, aber sie kam euphorisch zurück und berichtete: „Ich werde Patentante!“

An ihrem Rucksack baumelte das Schwimmbrett, sie setzte die Sonnenbrille auf, schlüpfte in die neuen Sandalen und packte den wasserfesten MP3-Player ein. An den ersten heißen Sommertagen im Juni flitzte sie fast jeden Tag in ein anderes Schwimmbad, traf sich mit ihren Freunden am See und verabredete sich mit ihrer Mutter zu einem Spaziergang über den Flohmarkt.

Und dann, plötzlich, rief sie nicht mehr an, gab es keine Ausflüge mehr mit ihr. An der Ecke Greifswalder / Storckower Straße geriet sie mit dem Fahrrad unter einen Lastkraftwagen.

„For what it’s worth, it was worth all the while.“ Im Atlantik schwimmt eine Flaschenpost. Sie ist für Ricarda unterwegs, die selbst gern noch so weit gereist wäre. Ihr Bruder Michael hat sie mit einem Foto von Ricarda auf den Weg geschickt, und wer sie findet, der möge sie wieder ins Meer werfen und dabei an sie denken. Vielleicht wird sie irgendwann in Indonesien, dem Land ihrer Träume, dessen Sprache sie an der Uni lernte, an den Strand gespült oder in Australien bei ihrem Bruder Björn. Vielleicht findet Nele sie später einmal am Isarstrand. „So take the photographs and still frames in your mind.“ Lena Panzer-Selz

Lena Panzer-Selz

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